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Hochbelastete pflegende Angehörige sollten sensibel begleitet werden

Viele pflegende Angehörige fühlen sich belastet und nehmen dennoch selten die bestehenden Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch. Wie sich das ändern ließe und wie Ärztinnen und Ärzte unterstützen könnten, erklärt Antje Schwinger vom WIdO.

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Pflegende Angehörige: Symbolbild für hohe Belastung
iStock.com/FG Trade
Foto von Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO)
Interview mit :

Antje Schwinger

Leiterin des Forschungsbereichs Pflege am Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO). Dr. Schwinger ist Pflegewissenschaftlerin und Gesundheitsökonomin.

Etwa 80 Prozent der fünf Millionen Pflegebedürftigen werden zuhause versorgt. Viele pflegende Angehörige haben ihre Berufstätigkeit reduziert oder ganz aufgegeben. Frau Schwinger, was wissen wir noch über den größten Pflegedienst in Deutschland?

Die häusliche Pflege ist nach wie vor weiblich. Etwa zwei Drittel der von uns befragten pflegenden Angehörigen sind Frauen. Dies trifft insbesondere für intergenerative Pflege zu – also, wenn die Eltern, Schwiegereltern oder Kinder versorgt werden müssen. Männer übernehmen zunehmend die Pflegerolle, wenn es um die Partnerin, den Partner geht. Jeder zweite Befragte lebt mit dem Pflegebedürftigen im gleichen Haushalt und etwa drei Viertel von ihnen sind im erwerbsfähigen Alter.

Die von uns ausgewerteten Daten stammen aus einem bevölkerungsrepräsentativen Online-Panel von Forsa. Bildungsabschluss und Einkommen lagen in der rekrutierten Stichprobe an pflegenden Angehörigen etwas über dem Erwarteten. Es gibt auch über 80-Jährige, die nahe Verwandte pflegen, und unter 18-Jährige. Kinder und Jugendliche werden jedoch in solchen Befragungen nicht erfasst.

Auffallend ist, dass die Pflegehaushalte viele Angebote gar nicht nutzen. Warum ist das so?

Jeder zweite Haushalt, in dem gepflegt wird, nimmt außer dem Pflegegeld keine einzige Pflegeleistung im eigentlichen Sinn in Anspruch. Es kommt also kein Pflegedienst ins Haus, auch die Angebote der Tagespflege oder Urlaubspflege werden nicht genutzt. Dies wird am häufigsten damit begründet, dass es keinen Bedarf gebe und der Angehörige „nicht von Fremden“ gepflegt werden soll oder will.

Die Akzeptanz, dass eine professionelle Kraft ins Haus kommt und die Mutter, den Vater, den Partner, die Partnerin versorgt, ist in der aktuellen Generation offensichtlich nicht sehr ausgeprägt.

Wie ist das zu deuten? Als Überforderung oder funktioniert in unserer Gesellschaft noch der soziale Kitt, also die Fürsorge füreinander?

Ja, die Pflege von Angehörigen geht natürlich nicht ohne Emotionen. Aus anderen Befragungen wissen wir, dass sich viele der Pflegenden verpflichtet fühlen und sie erleben auch, dass ihnen die Pflegearbeit ,etwas bringt‘, dass die Fürsorge für andere guttut. Dennoch ist es erstaunlich, wie wenig die Angebote der Pflegeversicherung eigentlich genutzt werden. Eine Kombination von Leistungen ist ja möglich. Sie können zum Beispiel das volle Pflegegeld beziehen und darüber hinaus beispielsweise den Entlastungsbetrag sowie die Verhinderungspflege nutzen.

Können auch mögliche zusätzliche Kosten abschrecken?

Schon. Unsere Daten zeigen, dass etwa 18 Prozent antworteten, dass ihnen die Angebote zu teuer sind, 14 Prozent geben an, dass das volle Pflegegeld für laufende Ausgaben wie zum Beispiel für Miete oder Lebensmittel benötigt wird. Fehlende Angebote vor Ort nennen fünf Prozent als Grund, warum sie nichts nutzen.

Es gibt die Idee, bei der Pflege in Zukunft mehr auf bürgerschaftliche Netzwerke, auf Nachbarschaftshilfen zu setzen. Wie kann das funktionieren?

Die demografischen Herausforderungen werden uns gar keine andere Wahl lassen. Gemeinschaften, in denen sich Menschen zusammenfinden und gegenseitig im Alltag unterstützen, könnten die Brücken in das professionelle Hilfesystem sein. Ein Ansatz ist, die Kommunen in ihre Rolle als Sozialraumgestalter zu stärken und gleichzeitig auch besser mit den Aktivitäten der Pflegekassen vor Ort zu verzahnen. Das liegt ja auf der Hand.

Was kann im Gesundheitswesen dafür getan werden?

Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind eine wesentliche Anlaufstelle für pflegende Angehörige, die mit den Herausforderungen der Situation nicht mehr klarkommen. Nach unseren Zahlen ist das in jedem vierten Haushalt mit Pflegebedürftigen der Fall. Natürlich wird es in den Gesprächen um konkrete Themen wie Krückenprobleme, unspezifische Belastungssymptome oder Burn-out gehen. Hier ist es wichtig, dass die Ärztinnen und Ärzte für die Nöte und Sorgen der Angehörigen sensibilisiert sind.

Die Berliner Charité hat jüngst eine Studie veröffentlicht, dass sich viele Ärzte kaum in der Pflege auskennen.

Die Ärztinnen und Ärzte müssen nicht jedes Angebot in der Pflege kennen. Die Anlaufstellen vor Ort sind vorhanden. Jeder hat Anspruch auf eine Pflegeberatung, sogar in der eigenen Häuslichkeit, wenn dies angebracht ist. Auch die Altenhilfe bietet Beratungen. Außerdem etablieren sich mehr und mehr Angebote der Selbsthilfe. Aber die Ärztinnen und Ärzte sollten diese Dinge kennen und auf die Angebote verweisen, das wäre hilfreich. Eine gute Ressource ist auch die DEGAM-Leitlinie „Pflegende Angehörige“. Hier werden zum Beispiel kurze Fragen aufgezeigt, um die Überlastungssituation frühzeitig zu erkennen.

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Die häusliche Pflege von Angehörigen geht häufig mit Einschränkungen in der eigenen Berufstätigkeit einher. Nur etwa ein Drittel der Frauen arbeitet weiterhin in Vollzeit. Unter den Männern, die Pflegebedürftige versorgen, sind es rund 65 Prozent. Die Zahlen stammen aus dem aktuellen Monitor des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).

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