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„Ängste hindern an sozialer Teilhabe“

Was tun, wenn Kinder nicht mehr in die Schule wollen? Der neue „Familiencoach Kinderängste“ soll Eltern helfen, den Nachwuchs bei Leistungsangst oder Sozialer Phobie zu stärken. Mit PRO DIALOG sprach der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Manfred Döpfner über Ursachen, Auswirkungen und Lösungsansätze.

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Foto von Professor Manfred Döpfner. Er ist Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut.

Interview mit Manfred Döpfner

Professor Manfred Döpfner ist Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Er leitet das Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (AKiP), die Pychotherapie-Ambulanz und den Forschungsbereich Psychotherapie an der Uniklinik Köln. 

Herr Professor Döpfner, Sie haben zusammen mit Ihrem Team vom Centrum für Kinder- und Jugendpsychotherapie an der Uniklinik Köln das psychologische Konzept des neuen „Familiencoach Kinderängste“ der AOK entwickelt. An wen richtet sich das Onlineportal?

Es soll vor allem eine Hilfe für Eltern sein, die bei ihren Kindern ausgeprägte Ängste bemerken. Ausgeprägt heißt unter anderem, dass die Ängste einen negativen Einfluss auf den Alltag haben, dass beispielsweise Kinder aufgrund von Leistungsangst oder sozialer Angst sich im Unterricht nicht mehr melden oder sogar den Schulbesuch verweigern.

Im Portal können Eltern mit Fragekatalogen und einem „Angstthermometer“ die Qualität und Quantität der Ängste ihrer Kinder einordnen. Gleichzeitig findet sich der Hinweis, dass Diagnosen nur Fachärzte stellen können. Ist das ein Widerspruch?

Nein. Wir sprechen von Ängsten, erhöhten Ängsten und Angstproblemen. Nicht von Angststörungen. Der Begriff „Störung“ ist für Diagnosen reserviert und dafür braucht es das klinische Urteil eines Arztes oder Psychotherapeuten. Der „Familiencoach“ ersetzt keine Therapie, er hat vor allem präventiven Charakter.

Wir wollen Eltern, deren Kinder häufig ängstlich reagieren, ermuntern, sich frühzeitig mit dem Thema zu befassen, ihre Kinder zu stärken und auch ihre eigenen Einflüsse auf die Kinder zu reflektieren.

Welche Einflüsse können das sein?

Ängstliche Kinder haben oft ängstliche Eltern. Kinder beobachten Mutter und Vater, orientieren sich an ihnen und übernehmen deren Reaktionen. Deshalb enthält der „Familiencoach“ auch Elemente, mit denen die Eltern ihre eigenen Ängste überprüfen können.

Wenn Eltern Belastungen erkannt und eigenes Verhalten reflektiert haben – was ist der nächste Schritt im „Familiencoach“?

Ein wesentliches Prinzip, das wir mit dem Angebot vermitteln wollen, ist Exposition. Das heißt, sich den eigenen Ängsten – selbstverständlich dosiert – zu stellen. Also Eltern zu motivieren, ihre Kinder dabei zu unterstützen, sich mit dem vermeintlich gefährlichen Ereignis zu konfrontieren, um zu erkennen: Es ist nicht so gefährlich, wie befürchtet.

Der Übergang zwischen normalen Ängsten und Angstproblemen ist fließend. Wo ziehen Sie die Grenze?

Zunächst haben Ängste eine wichtige Überlebensfunktion für uns.

Lösen laut quietschende Autoreifen bei einem Kind Angst und Fluchtreflexe aus, kann das hilfreich sein, weil eine reale Gefahr drohen könnte. Problematisch wird es, wenn Kinder Gefahren, die von einer Situation ausgehen, extrem überschätzen.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie Kinder mit sozialer Angst. Sie befürchten häufig, dass sie in der Schule abgelehnt werden und halten diese – zunächst rein fiktive – Vorstellung für die größte Katastrophe aller Zeiten. Das heißt: Diese Kinder überschätzen die Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer Gefahr und sie überschätzen die Folgen des Eintretens dieser Gefahr. Das wiederum kann zu starkem Vermeidungsverhalten führen – ein wesentliches Kriterium für die Einstufung einer Angst als Angstproblem.

Wann wird es problematisch, bestimmte Situationen zu meiden?

Wenn Ängste die Kinder an gesellschaftlicher Teilhabe hindern. Ein Beispiel: Angst vor Spinnen ist nachvollziehbar, kann sogar nützlich sein, denn manche sind ja giftig. Wenn sich aber ein Kind aufgrund von Spinnenangst dauerhaft weigert, draußen zu spielen, kann es kaum soziale Kontakte zu Gleichaltrigen knüpfen und daraus resultieren oft starke Einschränkungen in der Lebensqualität.

Neben der Erziehung und bestimmten Ereignissen, die Ängste auslösen können, spielen genetische Dispositionen als Ursache eine Rolle. Gib es auch in solchen Fällen therapeutische Möglichkeiten?

Zunächst: Bei Angst spielt die Veranlagung nicht so eine große Rolle wie bei anderen psychischen Merkmalen, etwa Unruhe oder Hyperaktivität. Außerdem: Auch genetisch bedingte Ängste sind nicht unabänderbar, sie lassen sich mit psychologischen Maßnahmen und elterlicher Unterstützung in den Griff bekommen.

Um vielschichtige psychologische Zusammenhänge für ein Internetportal aufzubereiten, das sich an Laien richtet, müssen Sie Komplexität reduzieren, gleichzeitig fachliche Präzision beibehalten. Konnten Sie diese Ambivalenz auflösen?

Der „Familiencoach Kinderängste“ ist nach dem „ADHS-Coach“ das zweite Onlineangebot, das wir zusammen mit der AOK entwickelt haben. Wir hatten also schon Erfahrungen mit diesem Spagat. Mein Team und ich haben das Grundkonzept erstellt und anschließend hat eine große Mannschaft die Umsetzung übernommen. Zwischendurch haben wir einzelne Teile Eltern gezeigt, um zu testen, ob unsere Ideen funktionieren. Zugute kam uns außerdem, dass wir nicht nur Wissenschaftler sind, sondern auch im Klinikalltag stehen. Dabei sind wir mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wie beim „Familiencoach“.

Inwiefern?

Auch in persönlichen Gesprächen mit Eltern ist es unsere Aufgabe, medizinische und psychologische Zusammenhänge allgemein verständlich zu kommunizieren und uns auf ganz unterschiedliche Gesprächspartner einzustellen. Manche Eltern benötigen zum Beispiel möglichst einfache Erklärungen, andere verlangen nach sehr detaillierten Einschätzungen. In solchen Situationen fungieren wir ebenfalls als Übersetzer.

Wenn Sie zurückblicken: Ist die heutige Generation der Kinder und Jugendlichen ängstlicher als frühere Jahrgänge?

So generalisierend lässt sich das nicht beantworten. Es gibt aber Studien, die darauf hindeuten, dass die Zahl der psychisch belasteten Kinder und Jugendlichen zugenommen hat. Vor allem externalisierendes Verhalten, wie ADHS, Aggression und Unruhe, aber eben auch internalisierende Symptome, zu denen Angst und Depressionen zählen.

Woraus resultiert diese Zunahme?

Kinder nehmen bestimmte Phänomene bedrohlicher wahr: Krisen, Kriege, Klimawandel. Hinzu kommt, dass wir seit der Coronazeit deutlich mehr seelische Störungen feststellen können als in den Jahren zuvor. Bis heute sind viele stationäre Einrichtungen überfüllt. Kontaktbeschränkungen treffen Kinder in der Regel härter als Erwachsene.

Werden solche weltweiten Ereignisse im Familiencoach thematisiert.

Ja. Neben den vier Modulen „Wissenswertes“, „Eigene Anteile bearbeiten“, „Das Kind stärken“ und „Sich der Angst stellen“, haben wir ein Zusatzmodul entwickelt: „Mit belastenden Erlebnissen umgehen“. Dort erklären wir, wie Eltern ihre Kinder bei besonderen Belastungen, etwa durch immer wiederkehrende schlechte Nachrichten, unterstützen können.

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Was tun, wenn Kinder nicht mehr in die Schule wollen? Der neue „Familiencoach Kinderängste“ soll Eltern helfen, den Nachwuchs bei Leistungsangst oder Sozialer Phobie zu stärken.

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