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Es braucht ein Netzwerk aus Experten

Mehr als ein Drittel aller Menschen mit Tumorerkrankungen wird nicht in spezialisierten Krebszentren behandelt. Dabei würden dort ihre Überlebenschancen signifikant steigen. Privatdozentin Dr. Simone Wesselmann von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) über Methodik und Vorteile einer Zertifizierung.

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Mann erhält Chemotherapie im Krankenhaus (Symbolbild)
iStock.com/Patarapol Prasit

In den von der DKG zertifizierten Krebszentren haben Patienten ein deutlich geringeres Risiko zu versterben als in anderen Einrichtungen. Bei Brustkrebs beispielsweise sind es 26 Prozent. Woraus resultiert dieser Überlebensvorteil?

Dr. Simone Wesselmann: Vor allem aus drei Gründen: Erstens arbeiten Ärzte verschiedener Fachbereiche, beispielsweise Onkologen, Radiologen und Chirurgen und weitere Berufsgruppen wie Sozialarbeiter interdisziplinär zusammen. Zweitens unterliegen zertifizierte Zentren einer strengen Qualitätskontrolle und drittens erfolgen Behandlungen nach den neuesten Leitlinien und Therapiemethoden.

Dennoch werden nur etwa 61 Prozent aller Patienten in spezialisierten Krebszentren behandelt. Warum?

Zunächst existieren Zertifizierungssysteme für die verschiedenen Krebsarten unterschiedlich lang. Den Anfang machten vor 20 Jahren die Brustkrebszentren. Mittlerweile werden dort 86 Prozent aller Ersterkrankungen von Patientinnen behandelt. Eine Zertifizierung für das Nierenkarzinom existiert deutlich kürzer.

Entsprechend geringer sind die Patientenzahlen. Ein anderer Aspekt: Es gibt keine Vorgabe, dass Tumore nur in zertifizierten Zentren therapiert werden dürfen. Jeder Mediziner mit einer entsprechenden Facharztweiterbildung darf Krebspatienten behandeln, auch wenn er jährlich nur zwei Betroffene sieht.

Die Mindestbehandlungsanzahl ist ein Kriterium bei der Vergabe der Zertifikate. Nach welchen Richtlinien ermitteln Sie und Ihre Kollegen, wie viel Krebspatienten ein Arzt jedes Jahr behandeln muss, um die DKG-Zertifizierung zu erlangen?

Grundsätzlich initiieren wir ein Zertifizierungssystem, wenn es eine entsprechende S3-Leitlinie gibt. Darin sind häufig schon Vorgaben enthalten. Falls das nicht der Fall ist, sichten wir Literatur, beurteilen Evidenzen und diskutieren auf diesen Grundlagen in den Zertifizierungskommissionen. So kommen am Ende die Mindestbehandlungszahlen zustande.

Mindestbehandlungsanzahlen lassen sich auf Basis von Abrechnungsdaten relativ einfach ermitteln. Wie beurteilt die DKG die Behandlungsqualität?

Zunächst müssen die Behandlungszentren eine lange Liste an Anforderungen erfüllen und die Details dazu in Erhebungsbögen vermerken, darunter Angaben zur Netzwerkstruktur, zur Qualifikation des Personals und  Personalausstattung, Weiterbildungsangeboten, medizinischer Ausstattung, Anforderungen an die leitliniengerechte Behandlung und vieles mehr. Der Erhebungsbogen für Brustkrebszentren umfasst zum Beispiel 41 Seiten.

Wie kontrollieren Sie die Korrektheit der Angaben?

Das geschieht in einem zweiten Schritt, über ein Auditverfahren. Ein Team aus zwei onkologisch tätigen Fachärzten besucht die Krebszentren, also alle zum Netzwerk gehörenden Partner, wie die Fachabteilungen der Kliniken und die Praxen niedergelassener Ärzte. Sie beobachten unter anderem die Mediziner bei der Arbeit, beurteilen Abläufe aus Sicht der Patienten, kontrollieren, ob das Personal leitliniengerecht handelt, ob neueste wissenschaftliche Erkenntnisse umgesetzt werden und die nötige Technik vorhanden ist. Die Auditoren lassen sich Nachweise und Zeugnisse zeigen, überprüfen Fallzahlen, lesen stichprobenartig einzelne Therapiepläne und Patientenakten. Solche Vor-Ort-Termine dauern anderthalb Tage.

Eine sehr aufwendige Methode …

Das stimmt. Aber Krebs ist eine komplexe Erkrankung, häufig lebensbedrohlich. Hinzu kommt: In einem solidarisch finanzierten und sehr teurem Gesundheitssystem müssen Behandlungen dort erfolgen, wo sie mit sehr guter Qualität erbracht werden. Interessant ist, dass die Überlebensraten steigen, je länger ein Krebszentrum zertifiziert ist. Die Auditierung verbessert also nachweisbar die Behandlungsqualität.

Was geschieht nach den Audits?

Wir fassen alle Informationen in einem Bericht zusammen. Sind die Kriterien erfüllt, wird das Zertifikat vergeben, gültig für drei Jahre – wobei wir jährliche Überwachungsaudits durchführen.

Warum prüfen Sie auch innerhalb des Zertifizierungszeitraums?

In der Onkologie ändert sich der Wissensstand extrem schnell. Deshalb ist es wichtig, zu schauen, ob der aktuelle Standard umgesetzt wird. Diese Dynamik in der Forschung ist übrigens auch ein Hauptgrund für die Notwendigkeit von Krebszentren. Dort können sich Experten auf einzelne Krebsarten spezialisieren und mit Spezialisten anderer Disziplinen austauschen. Wenn Sie dagegen nur zwei Mal im Jahr einen Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs sehen, ist es unmöglich, jede Neuerung in jedem Therapiebereich zeitnah zu erfassen. Dazu benötigt man ein funktionierendes Netzwerk.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Nehmen wir einen Patienten mit Darmkrebs. Der braucht zunächst eine exakte Diagnostik, dann vielleicht eine neoadjuvante Radiochemotherapie, anschließend folgt die Operation, danach ist eventuell eine weitere adjuvante Chemotherapie nötig.

Für den Betroffenen muss also ein individueller Ablaufplan aufgrund seines ganz speziellen Krankheitsbildes erstellt werden. Und für einen solchen Fahrplan braucht es ein Team, sprich ein Netzwerk aus Experten, in dem etwa der Strahlentherapeut über genauso viel onkologisches Wissen verfügt wie der Systemtherapeut.

Wie viel durch die DKG zertifizierte Krebszentren existieren derzeit?

Insgesamt 1.960, davon 169 im Ausland.

Warum ist die DKG auch im Ausland aktiv?

Unser Zertifizierungssystem wird auch außerhalb Deutschlands wahrgenommen, unter anderem in der Schweiz, aber auch in Österreich, Italien, Polen, Luxemburg und sogar in China. Einrichtungen aus diesen Ländern haben bei der DKG eine Zertifizierung beantragt.

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Im AOK-Gesundheitsnavigator finden Patienten jetzt aktualisierte Informationen zu Krankenhäusern und Arztpraxen. Bewertungsgrundlagen sind unter anderem Zertifizierungen, Mindestfallzahlen und Behandlungsqualität.

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