Die fetten Jahre sind noch nicht vorbei
Weniger Zucker, Salz und Fett in unseren Lebensmitteln – das ist das Ziel der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie. Auch knapp sieben Jahre nach dem Start im September 2018 sind lediglich die Ergebnisse des Produktmonitorings mager.

Die Zahlen sind nicht neu: Laut Robert-Koch-Institut (RKI) tragen in Deutschland fast die Hälfte der Frauen und 60 Prozent der Männer Übergewicht mit sich herum. Jeder fünfte Erwachsene gilt als krankhaft übergewichtig (adipös). Mangelnde Bewegung und ungesunde Ernährung machen sich auch bei immer mehr jungen Menschen bemerkbar: Bereits knapp zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen drei und 17 Jahren sind nach Daten des Bundesgesundheitsministeriums übergewichtig, knapp sechs Prozent sogar adipös. Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes lassen schon mal grüßen.
„Es war nie leichter als heute, zu viel vom Falschen zu essen und zu trinken. Wir leben in einer Welt, die Übergewicht fördert“, sagt Oliver Huizinga. Der Präventionsexperte des AOK-Bundesverbandes hält deshalb viel von der Strategie, „die gesunde Wahl zur einfacheren Wahl zu machen“. Er bezweifelt aber, dass sich das Fördern gesunder Ernährung mit Empfehlungen für freiwilliges Handeln der Lebensmittelindustrie umsetzen lässt: „Das allein wird nicht ausreichen, um die Adipositas-Epidemie einzudämmen.“
Rückschritt ausgerechnet bei Kinder-Produkten

Durch die jüngste Zwischenbilanz der freiwilligen Reduktionsstrategie fühlt Huizinga sich bestätigt. Danach hat die Lebensmittelindustrie wesentliche Ziele ihrer Selbstverpflichtungen in vielen Bereichen nur dank Statistik-Gymnastik erfüllt. „Die Zwischenbilanz der freiwilligen Reduktionsstrategie zeichnet ein gemischtes Bild. In einigen Produktkategorien konnten relevante Fortschritte erzielt werden, in anderen ist noch viel Luft nach oben“, sagt der Präventionsexperte. Für das Monitoring 2024 hatte das Max-Rubner-Institut (MRI) 7.290 Waren aus den Produktgruppen „kalte Soßen“, „Fleischersatz- und Wurstersatzprodukte“, „Feingebäck“ sowie „Erfrischungsgetränke“ unter die Lupe genommen.
Huizinga treibt besonders um, dass es bei Produkten in der Werbezielgruppe Kinder kaum Fortschritt, in Teilen sogar Rückschritt gibt. Laut MRI-Bericht erfüllen in diesem Bereich nur wenige Produkte die Nährwert-Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO): „Bei Erfrischungsgetränken sind dies 18,2 Prozent der Produkte mit Kinderoptik, bei Fleischersatz- und Wurstersatzprodukten 12,1 Prozent. Bei Feingebäck und kalten Soßen mit Kinderoptik erfüllt keines der untersuchten Produkte die Anforderungen des WHO-Nährwertprofilmodells.“ Ungefüllte Kekse enthalten laut Produktmonitoring im Schnitt mehr Fett als 2016 und „reguläre Erfrischungsgetränke mit Kinderoptik“ mehr Zucker als 2019.
Selbstverpflichtung der Industrie
Nach mehrjährigem Vorlauf hatte die damalige CDU-Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner Ende 2018 die „Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie“ ins Kabinett gebracht. Danach verpflichtete sich die Industrie, „bis 2025 Kalorien, Zucker, Fette und Salz in ihren Produkten zu reduzieren, vor allem wenn sie sich an Kinder richten“. Dazu gehörten auch die konkreten Zielvorgaben, den Zucker in Erfrischungsgetränken um 15 Prozent und in Frühstückscerealien um 20 Prozent zu verringern. Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft und die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (Dank) kritisierten diese Zielmarken schon zum Start als ungenügend. „Sieben Jahre Schonzeit für die Lebensmittelhersteller“, prophezeite Dank-Sprecherin Barbara Bitzer.
Das für das „engmaschige Produktmonitoring“ zuständige MRI im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat (BMLEH) hat sich allenfalls halbherzig Mühe gegeben, die neuen Resultate schönzurechnen. Aus dem am 2. Juli erschienenen Bericht geht etwa hervor, dass die Abfüller in gesüßten Erfrischungsgetränken für den deutschen Markt nicht 15, sondern über die ganze Produktgruppe hinweg nur 9,1 Prozent weniger Zucker auflösen als 2018. Das sind im Schnitt umgerechnet gerade mal 0,58 Gramm Zucker weniger als vor sieben Jahren.
Der neue Landwirtschafts- und Ernährungsminister Alois Rainer (CSU) verkündete dennoch einen 15-Prozent-weniger-Erfolg. „Eine Zahl, die im Bericht nicht genannt wird, sondern nur durch eine Berechnung abgeleitet werden kann, bei der das MRI selbst vor methodischen Ungenauigkeiten warnt“, kritisierte die Verbraucherorganisation Foodwatch. „Dieser Vorgang und die tatsächlich erreichten Rezepturänderungen sollten unabhängig untersucht werden“, fordert AOK-Experte Huizinga. „Zuckergetränke gelten als zentraler Treiber für Adipositas und Diabetes. Über den Erfolg oder Misserfolg der Reduktion in diesem Segment muss Klarheit herrschen.“
Empfehlungen statt Ergebnisse
Und was ist mit weniger Salz in Brot oder Wurst? Sieben Jahre nach Start der Reduktionsstrategie gibt es in diesen und anderen Produktbereichen immer noch keine Ergebnisse. Selbst zu Empfehlungen hat es im Widerstreit der Interessen vielfach nicht gereicht. „Durch die Komplexität des Themas und vorhandene Wissens- und Datenlücken konnten lediglich in einzelnen Fällen, etwa für Salz in Brot und Wurstwaren, konkrete Ziele erarbeitet werden“, begründet das MRI den Stillstand. „Für die Erarbeitung von Reduktionszielen für weitere relevante Lebensmittelgruppen wären weitere Daten und Expertenrunden unter Federführung des MRI notwendig.“ Unter anderem gebe es „Forschungsbedarf zur technologischen Machbarkeit von Reformulierungen und der daraus resultierenden Produktsicherheit“. Übersetzt: Wie wirken sich etwa weniger Salz und Fett auf die Halt- und Genießbarkeit von Wurstwaren aus.
Keine politischen Mehrheiten für WHO-Ziele
„Die WHO empfiehlt als zentrale Bausteine für die Förderung gesunder Ernährung eine gesundheitsorientierte Subventionierung und Besteuerung von Lebensmitteln, Werbebeschränkungen für Ungesundes sowie eine verbindliche, laienverständliche Nährwertkennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite“, erläutert Huizinga. Für keine dieser drei Maßnahmen gebe es aktuell parteipolitische Mehrheiten. „Das ist fatal, denn die Last durch ernährungsbedingte Erkrankungen wiegt schwer – nicht nur für die gesetzliche Krankenversicherung, sondern in erster Linie für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen.“
Dass es auch anders geht, zeigt unter anderem Großbritannien. Dort ist der durchschnittliche Zuckergehalt in Getränken nach Einführung einer entsprechenden Steuer um 35 Prozent gesunken. Steuern waren für die Bundesregierungen bisher tabu „Nur soweit der Weg über freiwillige Vereinbarungen nicht funktioniert, müssen wir regulatorische Maßnahmen prüfen“, betonte Ernährungsministerin Klöckner – inzwischen Präsidentin des Deutschen Bundestages – im Frühjahr 2019. „Lassen Sie uns mit der Reduktionsstrategie mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass es auch anders geht. Wenn das nicht funktioniert, müssen aber gesetzliche Regelungen her.“
Schonzeit wird verlängert
Doch erst einmal geht die Schonzeit für die Lebensmittelindustrie in die Verlängerung. „Die Ergebnisse des Produktmonitorings und die Empfehlungen aus der Wissenschaft zu möglichen Reduktionszielen werden in die seitens des BMLEH für Ende 2026 geplante Gesamtbilanz und die Schlussfolgerungen daraus einfließen“, heißt es aus dem Ernährungsministerium. Im Klartext: Mindestens bis 2027 müssen Hersteller keine Sanktionen befürchten, wenn sie die Messlatte der eigenen Selbstverpflichtung reißen. Und neben der Reduktions- und Innovationsstrategie hängt auch die vom grünen Landwirtschaftsminister Cem Özdemir Anfang 2024 mit FDP-Bremsklötzen auf die Schiene gesetzte übergeordnete Ernährungsstrategie in der BMLEH-Warteschleife.
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