Artikel Prävention

„Gehen muss wieder Teil unseres Alltags werden“

25.06.2025 Maria Sinjakowa 5 Min. Lesedauer

Gehen ist weit mehr als Fortbewegung – es ist gesund, es schont die Umwelt, kostet nichts und schafft Möglichkeiten für Begegnungen.

In einem grünen Park geht ein älteres Ehepaar spazieren.
Die Mehrheit der Deutschen bewegt sich zu wenig. Dabei wirkt sich regelmäßige Bewegung nicht nur auf die Gesundheit positiv aus.

Zahlreiche Studien zeigen: Wer regelmäßig zu Fuß geht, senkt sein Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, Übergewicht, Depressionen und bestimmte Krebsarten. „Bereits zweieinhalb Stunden moderates Gehen pro Woche können einen erheblichen gesundheitlichen Unterschied machen“, sagt Anke Tempelmann, Expertin für Prävention im AOK-Bundesverband. „Der präventive Effekt ist wissenschaftlich gut belegt, und zwar unabhängig vom Körpergewicht.“

Ein Großteil der deutschen Bevölkerung sitzt zu viel und bewegt sich zu wenig: Nur etwas mehr als die Hälfte der Erwachsenen hierzulande erreicht die Bewegungsempfehlung der WHO. Auch Kinder und Jugendliche erreichen die empfohlene Bewegungszeit von täglich mindestens 60 Minuten moderater körperlicher Aktivität mehrheitlich nicht. Bei Menschen über 80 Jahren sind es sogar nur 10 Prozent. Dabei profitieren insbesondere Kinder und Ältere von regelmäßiger Bewegung am meisten.

Teure Inaktivität: Hohe Ausgaben, geringe Lebenserwartung

Deutschland gibt europaweit am meisten für Gesundheit aus – und landet dennoch bei der Lebenserwartung unter dem europäischen Durchschnitt. Laut OECD sind rund 40 Prozent aller Todesfälle hierzulande auf insbesondere vier Risikofaktoren zurückzuführen – darunter Bewegungsmangel.

Die Folge von Bewegungsmangel ist eine wachsende Krankheitslast in einer zunehmend alternden Gesellschaft. Vor allem Herz-Kreislauferkrankungen, Typ-2-Diabetes, Adipositas, Krebs und Muskel-Skelett- Erkrankungen wie Rückenschmerzen, nehmen zu, was mit enormen Kosten einhergeht. Bewegungsmangel ist damit ein relevanter Risikofaktor sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft sowie das Gesundheits- und Pflegesystem.

Gesundheit ist auch eine Frage des Wohnorts

„Gesundes Leben und Altern ist möglich – aber nur, wenn wir Bewegung zur gesellschaftlichen Aufgabe machen“, meint Tempelmann. Denn in Deutschland können nicht alle Menschen gleichermaßen von Bewegung profitieren. Wer eine niedrige Bildung und wenig Einkommen hat, an einer Hauptstraße oder in einer unsicheren Gegend wohnt, hat oft schlechtere Chancen, im Alltag körperlich aktiv zu sein. „Die Entscheidung, wie sich jemand fortbewegt, hängt nicht nur von der eigenen Motivation oder eigenem Willen ab. Sie ist häufig auch strukturell geprägt“, erläutert die Präventionsexpertin, die auch beim diesjährigen Fußverkehrskongress auf dem Podium saß. „Gesunde aktive Mobilität braucht förderliche Entscheidungen in Kommunen.“

Umgebung bestimmt unser Gesundheitsverhalten

Denn die Umgebung beeinflusst unser Verhalten. Wer in einem Stadtteil mit guter Fußwege-Infrastruktur lebt, bewegt sich mehr. Das bestätigt auch eine neue Übersichtsstudie der Universität Lausanne aus 2024. Demnach erhöhen nahe, attraktive und sichere öffentliche Räume nicht nur die körperliche Aktivität. Sie wirken sich auch positiv auf die psychische Gesundheit, soziale Teilhabe und sogar die Lebenserwartung aus.

Städte wie Wien, Kopenhagen und Paris setzen deshalb längst auf Konzepte, die die Stadt an die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung anpassen. Sie konzentrieren sich häufig auf die Erreichbarkeit des Alltagslebens innerhalb eines kurzen Umkreises, mit dem Ziel, weniger Luftverschmutzung, weniger Lärm und mehr Lebensqualität. Zu solchen Konzepten zählen der Wiener Masterplan Zu-Fuß-Gehen, bei dem die Bewohnerinnen und Bewohner der österreichischen Hauptstadt mehr als ein Drittel ihrer Wege zu Fuß erledigen, die 15-Minuten-Stadt, ein Konzept mit dem Paris den Radverkehr fördert oder das Kopenhagener Reallabor für Grüne Mobilität, bei der die Menschen künftig ihren Alltag im Radius von fünf Gehminuten leben können, mit sauberer Luft, weniger Lärm, mehr Lebensqualität und Null CO2-Ausstoß.

In Deutschland sind solche Konzepte oft noch ein Nischenthema. Aber auch hierzulande gibt es Bewegung. So sind für Berlinerinnen und Berliner ab 14 Jahren das eigene Paar Füße inzwischen das beliebteste Fortbewegungsmittel. Damit meistern sie 34 Prozent ihrer Wege. Bereits 2021 haben die Abgeordneten im Berliner Landesparlament die Erweiterung des Mobilitätsgesetzes um den Fußverkehrsteil beschlossen. Barrierefreiheit, die Senkung der Unfallzahlen und die Steigerung der Nutzerzufriedenheit sind wichtige Ziele, die Berlin mit dem Gesetz erreichen will. Auch kleine Gemeinden können großes leisten. Für ihr Projekt „Ortsmitte III“ erhielt die Gemeinde Nußloch den ersten Landespreis für Fußverkehr, der bei der „Fußverkehrskonferenz Baden-Württemberg“ 2024 verliehen wurde. Durch Umverteilung des öffentlichen Raums wurde der Fußverkehr in der Gemeinde gestärkt – mit großer Zustimmung der Bevölkerung.

Gesundheit und Städteplanung gemeinsam denken

Während die Städte- und Verkehrsplaner über Umverteilung des öffentlichen Raums diskutieren, hält der Gesundheitssektor einem Schatz an Daten, Programmen und Präventionswissen bereit. Doch beide arbeiten oft nebeneinander und stimmen sich nicht über ihre Vorhaben und Programme ab. „Wenn wir mehr Menschen motivieren wollen, Bewegung in ihren Alltag zu integrieren, brauchen wir eine sektorübergreifende Zusammenarbeit nach dem Prinzip 'Health in and for all Policies'“, betont Tempelmann. „Gesundheitsförderung gehört auch in die Verkehrsplanung, die Stadtentwicklung und die Bildungspolitik wie die WHO in der Ottawa-Charta bereits vor knapp 40 Jahren gefordert hat.“ Bewegung lasse sich nicht verordnen. Sie müsse den Menschen ermöglicht werden, etwa durch bewegungsfreundliche Quartiere, sichere Schulwege oder barrierefreie Parks.

Prävention beginnt im Alltag

Anke Tempelmann ist überzeugt, dass das Gehen wieder Teil unseres Alltags werden müsse. Und erfolgreiche Initiativen gibt es bereits. Zum Beispiel „Walking Busse“ für Kinder – eine Idee, die ursprünglich aus Großbritannien kommt, und die die AOK aufgegriffen hat. Dabei treffen sich die Kinder mit demselben Schulweg an vorab festgelegten Punkten und laufen unter der Aufsicht von ein, zwei Erwachsenen gemeinsam zur Schule. Auch „Girls Talking and Walking“ zählt dazu, ein Konzept bei dem sich junge Mädchen und Frauen zum gemeinsamen Spazierengehen über Social Media verabreden. Erfahrungen zeigen, dass der Erfolg solcher Projekte steigt, wenn sie in ein kommunales Gesamtkonzept eingebunden sind. „Gesundheitsförderung wirkt am besten dort, wo die Menschen leben“, sagt Tempelmann.

Illustration: Abgebildet sind zwei Personengruppen. Die linke besteht aus einem älterren Herren, einer Arbeiterin und einem Schulkind. Die rechte Gruppe besteht aus einer Mutter, einem Vater und zwei Kindern. Die Illustration zeigt, dass die Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention der gesetzlichen Krankenversicherung 2023 mit 7,7 Millionen Menschen insgesamt 47.000 Lebenswelten direkt erreicht hat.

Doch es bleibt laut Tempelmann viel zu tun. „Die größte Wirkung erzielen wir, wenn wir Verhältnis- und Verhaltensprävention gemeinsam denken – also, wenn gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen und individuelle Angebote Hand in Hand gehen“.

Gehen ist Klimaschutz, soziale Teilhabe, Kostenreduktion und Zukunftsinvestition

Die gesundheitlichen Effekte des Gehens sind wissenschaftlich gut erforscht und belegt. Doch Gehen ist noch viel mehr: „Gehen ist eine Maßnahme mit Mehrfachnutzen“, betont die Präventionsexpertin. Wer zu Fuß unterwegs ist, produziert weniger CO₂, reduziert Lärm, stärkt die Nachbarschaft und entlastet das Gesundheitssystem. All das sind sogenannte Co-Benefits, die gleichzeitig Investitionen in unsere Zukunft sind. „Wir müssen sie nur als solche begreifen – und gemeinsam denken und fördern.“

 

Foto: Füße in Turnschuhen, die über eine Straße gehen.
Regelmäßig zu Fuß unterwegs zu sein, hält den Körper fit und schützt die Psyche. Schon kleine Veränderungen des Bewegungsverhaltens im Alltag können viel bewirken.
18.06.2025Maria Sinjakowa3 Min

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