Interview Pflege

„Live-in-Arrangements bringen viele Probleme mit sich"

08.02.2024 Änne Töpfer 5 Min. Lesedauer

Wenn Menschen wegen einer Demenz großen Betreuungsbedarf haben, suchen Angehörige häufig nach osteuropäischen Haushaltshilfen. Versorgungsforscherin Milena von Kutzleben nimmt im Projekt „TriaDe" gemeinsam mit Ethikern und Kommunikationswissenschaftlern diese Live-in-Arrangements in den Blick und deckt neuralgische Punkte auf.

Foto: Eine ältere und eine jüngere Frau von hinten zu sehen, laufen nebeneinander. Die jüngere Frau umarmt die ältere.
Wieviele osteuropäische Betreuungskräfte in deutschen Haushalten leben, ist nach wie vor ein Dunkelfeld

Welche Bedeutung haben osteuropäische Hilfskräfte in der Betreuung von Menschen mit Demenz in Deutschland aktuell?

Dr. Milena von Kutzleben: Diese Live-in-Hilfen betreuen Menschen mit Demenz in deren häuslichen Umfeld und wohnen dort. Die Arrangements haben eine große Bedeutung. Allerdings haben wir keine belastbaren Zahlen. Die Schätzungen, wie viele Live-in-Arrangements es in Deutschland gibt, gehen von 200.000 bis zu 600.000. Die Zahlen beruhen auf Befragungen von pflegenden Angehörigen oder Pflegebedürftigen. Aber das ist wirklich ein Dunkelfeld, auch wenn die Hilfen legal über Agenturen nach Deutschland vermittelt werden.

Warum engagieren Menschen Live-in-Hilfen?

von Kutzleben: Häufig ist Demenz der Grund, sich auf die Suche nach einer Live-in-Hilfe zu machen. Wir wissen aus Interviews, dass die Angehörigen irgendwann merken, dass sie allein nicht mehr zurechtkommen, der allgemeine Beaufsichtigungs- oder Betreuungsbedarf einfach zu groß ist. Dann liegt die Idee einer 24-Stunden-Hilfe – so werden sie von den Agenturen immer noch beworben – nahe. Das erscheint den Angehörigen wie eine Rund-um-Sorglos-Lösung: Dann ist halt immer jemand da.

Welche Schwierigkeiten können sich aus einer solchen Betreuungssituation ergeben?

von Kutzleben: Das Arrangement zu etablieren, ist schwierig. Es gibt verschiedene Modelle, wie Live-in-Hilfen hier angestellt werden können. Für Angehörige ist schwer zu verstehen, welche Konsequenzen das hat. Wenn es ein Angestellten-Modell ist, sind sie in einer Arbeitergeber-Rolle. Wenn sie die Hilfe über eine Agentur buchen, nehmen sie eine Dienstleistung in Anspruch. Dennoch müssen sie eine Manager-Rolle einnehmen und dafür sorgen, dass das Arrangement funktioniert. Den meisten Angehörigen, mit denen wir gesprochen haben, ist es wichtig, dass alles legal ist. Wenn sie sich an die Gesetze halten, brauchen sie aber weitere Formen der Unterstützung, denn die Live-in-Hilfen dürfen nur acht Stunden am Tag arbeiten. Es ist kein Rund-um-Sorglos-Paket. Zudem haben die meisten Live-in-Hilfen keine Vorbildung dazu, wie sie mit Demenz umgehen sollten und es fehlen ihnen Deutschkenntnisse. Auch können Familienkonflikte entstehen. In unserer Studie hat ein Ehepaar die Versorgung abgebrochen, weil die Frau mit Demenz eifersüchtig auf die Live-in-Hilfe war.

Foto: Porträt von Dr. Milena von Kutzleben, Universität Oldenburg.
Dr. Milena von Kutzleben, Universität Oldenburg

Sie gehen den Live-in-Arrangements in der Triade-Studie auf den Grund. Worauf bezieht sich der Begriff Triade?

von Kutzleben: Im Triade-Projekt begleiten wir wenige Familien über einen längeren Zeitraum, um zu verstehen, wie dieses Zusammenleben funktioniert. Der Begriff der Triade bezieht sich zum einen darauf, dass wir die gesamte Konstellation in den Blick zu nehmen, also die Sicht der Angehörigen, der Live-in-Hilfen und der Pflegebedürftigen. Welche Aushandlungsprozesse und Interaktionsdynamiken liegen da vor? Die andere Triade sind unsere drei wissenschaftlichen Perspektiven: die ethische und die kulturwissenschaftliche Perspektive – dabei geht es um die Kommunikation – sowie die Perspektive der Versorgungsforschung. Wir interpretieren die Daten gemeinsam.

Von welchen Fragestellungen lassen Sie sich leiten?

von Kutzleben: Aus der Perspektive der Versorgungsforschung schaue ich mir vor allen Dingen die informellen Versorgungskonzepte an. Welche Ideen von guter Versorgung gibt es auf den drei Seiten? Die Ethik fragt, wie Sorgeverantwortung ausgehandelt wird. Wie wird definiert, wer in der Familie für was zuständig ist und welche Sorgeverantwortung an die Live-in-Hilfe übergeben wird? Es geht auch um das Dilemma, dass Menschen sich eine gute Versorgung wünschen, dafür Live-in-Hilfen engagieren, dann aber sehen, dass das im Konflikt mit einer guten Arbeitssituation für die Hilfskraft steht. Die Kommunikationswissenschaftler schauen sich an, wie kommunikative Handlungsabstimmungen funktionieren. Wie sind die Machtverhältnisse in der Kommunikation?

Für die Studie werden Sie acht Familien über ein Jahr hinweg begleiten. Wie groß ist das Interesse, an der Studie teilzunehmen?

von Kutzleben: Es ist nicht einfach, die Familien für die Studie zu finden. Momentan nehmen vier oder fünf Familien teil. Ein Arrangement wurde aufgelöst, es ist auch schon jemand gestorben. Solche Änderungen haben wir eingeplant. Wir suchen dann Ersatz. Schwierig ist es, Menschen mit Demenz zu finden, die sich in Interviews äußern können.

Wie gestalten Sie die Begleitung der Familien?

von Kutzleben: Wir machen eine klassische ethnografische Studie: Wir nehmen am Alltag teil, sind für viele Stunden in der Familie, halten uns dort auf, machen zwischendurch, wenn es passt, Interviews mit mehreren oder einzelnen Personen. Es ist wichtig, die Sicht der einzelnen Menschen zu erheben, gerade auch von den Live-in-Hilfen.

Welche Zukunft hat die Betreuung von Menschen mit Demenz durch osteuropäische Haushaltshilfen?

von Kutzleben: Die jetzige Form ist für keinen der Beteiligten eine wirklich gute Lösung. Live-in-Arrangements bringen viele Probleme mit sich. Die Live-in-Hilfen haben häufig keine guten Arbeitsbedingungen und die Aufgaben gehen zum Teil über ihre Kompetenzen hinaus. Angehörige finden kaum Unterstützung bei der Etablierung eines Live-in-Arrangements und der ständige Wechsel der Live-in-Hilfen bringt die Familien in eine Dauerkrise – weil sie nie genau wissen, ob der nächste Wechsel gut klappt. Für Menschen mit Demenz, die auf kontinuierliche Beziehungen angewiesen sind, ist der Wechsel der Bezugspersonen natürlich auch ein Problem. Wir haben kürzlich die politischen Diskurse analysiert. Da gibt es drei Strömungen: Es gibt Menschen, die sagen, es sollte so bleiben, wie es ist, aber die Live-in-Hilfen sollten professionalisiert werden. Andere meinen, die Live-in-Arrangements sollten abgeschafft werden. Und die dritte Gruppe sagt, Live-in-Hilfen sollten in einen Versorgungsmix integriert werden und nicht mehr in den Familien wohnen. Das kann an die Idee der Caring Communities andocken: dass die Strukturen in den Lebenswelten demenzfreundlich gestaltet werden müssen.

Zur Person

Dr. Milena von Kutzleben ist examinierte Krankenschwester und studierte anschließend Public Health. Sie absolvierte an den Universitäten Bielefeld und Tel Aviv das Zusatzprogramm European Master of Public Health. In ihrer Dissertation untersuchte sie die Rolle von Angehörigen in häuslichen Versorgungsarrangements bei Demenz. Seit Oktober 2018 ist Milena von Kutzleben als wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post-Doc) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im Department für Versorgungsforschung tätig.

Kontakt:
Milena.von.Kutzleben(at)uni-oldenburg.de

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