Artikel Pflege

Expertise für die Zukunft der Pflege

16.10.2023 Änne Töpfer 8 Min. Lesedauer

In alternativen Organisationsformen ambulanter Pflege teilen sich verschiedene Professionen, Angehörige und Ehrenamtliche die Verantwortung. Das kann Pflegekräfte entlasten.

Foto: Eine pflegende Frau umarmt eine ältere Frau und lächelt.
Mehr Zeit für individuelle Pflege: Das erhöht die Arbeitszufriedenheit

Sie fördern die Autonomie der Bewohnerinnen und Bewohner, bieten mehr Alltagsnormalität als ein Heim und erfreuen sich zunehmender Beliebtheit: alternative Wohnformen für pflegebedürftige Menschen. Dazu gehören beispielsweise Pflege-Wohngemeinschaften und das sogenannte Betreute Wohnen/Service-Wohnen. Einige von ihnen sind bereits Teil von regionalen Quartierskonzepten. Wie sich solche Organisationsformen ambulanter Pflege auf die Gesundheit des Pflegepersonals auswirken, war Gegenstand eines Fachgesprächs auf Einladung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sowie des AOK-Bundesverbandes.

In ihrem Grußwort zur Eröffnung des Workshops wies Dr. Carola Reimann, Vorstandvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, auf eine „ganz zentrale Chance“ hin: „Insbesondere Pflegeeinrichtungen mit beschäftigtenorientierter Arbeitsorganisation haben meist geringere Probleme bei der Rekrutierung von qualifiziertem Personal und berichten über eine höhere Zufriedenheit ihrer Mitarbeitenden. Und Mitarbeitende, die sich wohlfühlen, wirken sich in der Pflegequalität aus.“

Prüfsteine für alternative Wohnformen

Sympathien für „ambulante Pflegewohnformen mit sicherer Versorgungsumgebung“ zeigte auch Nadine-Michéle Szepan, Leiterin der Abteilung Pflege im AOK-Bundesverband. „Gerade ambulante Pflegewohnformen versprechen Menschen mit Pflegebedarf mehr Entscheidungsfreiräume. Es geht um das Mitentscheiden beim Wohnen, bei der Mobilität, bei der Alltagsgestaltung und bei der Versorgung, nicht nur um das Mitgestalten“, so Szepan. „Aber man darf nicht aus den Augen verlieren, dass partizipative Beteiligungs- und Engagementkultur auch kontinuierliche Aushandlungsprozesse und hohe Koordinierungsaufwände nach sich ziehen.“ Inwieweit diese Wohnformen bessere Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal böten, insbesondere im Vergleich zur vollstationären Pflege, sei daran zu messen, ob eine fachpflegerische Begleitung ermöglicht werde und adäquate Rahmenbedingungen für professionelles Handeln vorlägen. Indikatoren hierfür könnten sein: Zeit für individuelle Pflege, gezielter Einsatz von Fähigkeiten des Personals, Umsetzung spezifischer Pflegekonzepte, Arbeitsbelastung in der Pflege, Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen sowie Arbeitssicherheit. Kritisch sieht sie gegebenenfalls fehlende strukturelle Anforderungen oder Qualitätssicherungsvorgaben, zum Beispiel zur Arbeitssicherheit des Pflegepersonals.

Studie belegt Vorteile von Pflege-WGs

Wohnformen, die Teilhabe, familienähnliche Sorgestrukturen, individuelle Lebensführung, individualisierte Leistungen, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit ermöglichen, können auch der Gesundheit der Mitarbeitenden dienen. Darauf weisen Ergebnisse einer Studie von Professor Burkhard Werner hin, emeritierter Professor der Katholischen Hochschule Freiburg. Der Organisationssoziologe und sein Team haben 2017 die psychische Belastung und Beanspruchung von Mitarbeitenden in Demenz-Wohnbereichen von Heimen mit denen in Demenz-Wohngemeinschaften verglichen.

Demnach sind in Demenz-Wohnbereichen von Heimen Mitarbeitende doppelt so häufig psychisch belastet (58 Prozent) wie in ambulant betreuten Demenzwohngruppen (WG; 29 Prozent). Sowohl der Krankenstand als auch die Zahl der Krankheitstage waren bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der WGs in den letzten drei Monaten vor der Befragung niedriger als bei denen im Heim (Krankenstand: 41 gegenüber 48 Prozent, Krankheitstage: 3,7 gegenüber 4,9). Werner empfiehlt daher den Auf- und Ausbau von Pflege- und Demenz-WGs. „Wenn jeder ambulante Pflegedienst eine Pflege-Wohngemeinschaft auf den Weg bringt und hauptverantwortlich betreut, ergäbe dies zusätzlich 11.000 Pflege-Wohngemeinschaften mit rund 100.000 Plätzen“, errechnete der Freiburger Wissenschaftler.

„Es geht um das Mitentscheiden beim Wohnen, bei der Mobilität, bei der Alltagsgestaltung und bei der Versorgung, nicht nur um das Mitgestalten.“

Nadine-Michèle Szepan

Leiterin der Abteilung Pflege im AOK-Bundesverband

Buurtzorg-Modell verringert Fluktuation

In den Niederlanden arbeiteten im Jahr 2020 rund 10.000 Pflegende in 850 selbstorganisierten Teams nach dem „Buurtzorg“-Modell. Dabei handelt es sich um ein „Konzept integrierter ambulanter pflegerischer und anderer Versorgung“, über das Eva-Maria Gruber von der Hochschule Osnabrück berichtete. Merkmale des Modells seien neben hierarchiefreien Teams die Förderung der Selbstständigkeit als pflegerisches Konzept, die Vergütung nach Zeit und die Einbeziehung des erweiterten sozialen und lokalen Umfelds als Bestandteil des Konzepts – Buurtzorg bedeutet Nachbarschaftshilfe. Die Buurtzorg-Teams in den Niederlanden verzeichneten nur eine Fluktuation der Beschäftigten von zehn Prozent gegenüber 15 Prozent in anderen Pflegediensten. Auch deren Krankheitsrate liege um 60 Prozent niedriger als in klassischen Diensten.

In Deutschland allerdings seien vier Buurtzorg-Teams in Leipzig und Dresden gescheitert, berichtete Robert Wolf von der Bosold Pflege GmbH. Als Gründe führte er die unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen in den Niederlanden gegenüber Deutschland, aber auch die herausfordernde Selbstorganisation des Pflegepersonals an. Dennoch habe sich für seinen Pflegedienst und die Mitarbeitenden einiges zum Positiven verändert: Das Pflegepersonal plant seine Touren eigenständig, digitale Informationen werden digital weitergegeben, schnellere Kommunikation mit den Leistungsträgern. Das trägt zu weniger Überforderung, mehr Zeit für die Kernarbeit (Pflege) und mehr gegenseitiger Hilfe und Unterstützung bei.

Resilienzfaktoren unterstützen

Foto: Zwei ältere Frauen sitzen auf einem Bett und umarmen sich.
Die Einbindung der Nachbarschaft und Ehrenamtlicher kann pflegende Angehörige gezielt entlasten.

Praxiserfahrungen mit alternativen Organisationsformen ambulanter Pflege brachte auch Martin Schnellhammer, Hochschule Osnabrück, in das Fachgespräch ein. Das Projekt „Pflegenachbarn“ verfolgt in Niedersachsen das Ziel, ein Modell zur selbstbestimmten Organisation von Pflegeteams zu erproben. So soll die Situation von pflegebedürftigen Menschen und Pflegekräften gleichermaßen verbessert werden. Neu ist, dass die Pflegeteams den individuellen Versorgungsbedarf direkt mit den Pflegebedürftigen vereinbaren. Durch diesen vergrößerten Handlungsspielraum soll eine höhere Zufriedenheit bei allen Beteiligten erreicht werden. Insgesamt werden attraktivere und gesündere Arbeitsbedingungen geschaffen. Gleichzeitig soll die Einbindung der Nachbarschaft und Ehrenamtlicher pflegende Angehörige gezielt entlasten.

Zugrunde lägen Erkenntnisse der Resilienzforschung. Schnellhammer machte deutlich: „Kleine Teams, Autonomie der Teams, effektive Abläufe, ganzheitliche Organisation und Technisierung unterstützen Resilienzfaktoren.“ Die Beschäftigten in den 14 Teams der „Pflegenachbarn“ brauchten allerdings kontinuierliche Unterstützung bei der Selbstorganisation. Der Fortbildungsblock sei für die Beschäftigten notwendig und komme gut an. „Mit Krankenstand und Haltequote der Mitarbeitenden sind wir auf einem guten Weg“, so Schnellhammer. Und: „Das Modell darf kopiert werden.“ Ein erster Ergebnisbericht ist für Ende des Jahres angekündigt.

Regelkommunikation etablieren

Mit Führungsarbeit in geteilter Verantwortung hat sich Christoph Steiert befasst. Der Pflegedienstleiter einer Sozialstation und Gesundheitsmanager hat die Pflege-Wohngemeinschaft „Mittendrin“ in Staufen mit aufgebaut. Die WG „Mittendrin“, die strukturiert ins Quartier eingebunden ist, hat sich die geteilte Verantwortung und die größtmögliche Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohner auf die Fahnen geschrieben.

Geteilte Verantwortung beziehungsweise das Zusammenwirken auf Augenhöhe aller Beteiligten brauche klar definierte Rollen und Aufgaben sowie klar definierte Vereinbarungen, betonte Steiert beim Fachgespräch. „Voraussetzung dafür ist die Etablierung einer Regelkommunikation.“ Aus der Führungsperspektive biete die geteilte Verantwortung insofern Chancen, als sie die Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende der Alltagsassistenz und Fachpflege verbessere, da sie mitgestalten und sich aktiv einbringen können. Die WG könne so „Kaderschmiede für junge Führungskräfte“ sein, da es sich um eine kleine Einheit mit dennoch vielfältigen Aufgaben handele.

Auftrag an die Politik

Auch die Projektkoordinatorin der Bürgergemeinschaft Oberried, Lucia Eitenbichler, sieht positive Auswirkungen der geteilten Verantwortung in Pflegewohngemeinschaften. Dazu gehörten die Entlastung durch Teamorientierung, durch Austausch und gegenseitige Unterstützung sowie durch die Möglichkeit, die Reihenfolge der Versorgung anzupassen. Die Gewissheit, dass die Bewohnerinnen und Bewohner gut versorgt seien, führe zu einer psychischen Entlastung. „Wenn es wirklich einen Beitrag alternativer Wohnformen zur Entlastung gibt, muss die Politik entsprechend entscheiden und die Grundlage für strukturelle Änderungen schaffen“, so AOK-Pflegeexpertin Szepan in der Abschlussdiskussion.

Mitwirkende des Beitrags

1 Kommentar

Meine Mutti arbeitet in der ambulanten Pflege. Geteilte Verantwortung und Regelkommunikation finde ich auch wichtig, um gemeinsam den Arbeitsalltag zu gestalten und zu verbessern. Das hilft vielleicht auch gegen den Personalmangel. Ich werde meine Mutti fragen, wie es mit der Regelkommunikation bei ihr auf der Arbeit läuft und ob es Veränderungen gebracht hat. https://www.pflege-neuss.de/Leistungen/pflegeservice

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