Evidenz sucht Gehör
Wie schafft es die Wissenschaft, der Politik ihre Ergebnisse und Botschaften erfolgreich zu vermitteln? Antworten suchten und fanden Vertreterinnen und Vertreter beider Seiten beim Herbstsymposium des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in Köln.
Weltweit spült der Wissenschaftsbetrieb jedes Jahr geschätzt mehr als fünf Millionen Publikationen höchst unterschiedlicher Qualität auf den Markt, etwa ein Fünftel davon aus den Bereichen Medizin und Gesundheit. Allein das Deutsche Register Klinischer Studien wächst jährlich um mehr als 2.000 neue Arbeiten. Schon die schiere Masse erschwert es Forschenden, mit evidenzbasierten Ergebnissen politisch durchzudringen.
Das 2004 gegründete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat dank des gesetzlichen Auftrags zur unabhängigen, evidenzbasierten Bewertung neuer Medikamente, Untersuchungs- und Behandlungsverfahren oder Leitlinien einen guten Draht zur Gesundheitspolitik. In diesem Jahr veröffentlichte das IQWiG 200 Bewertungen – überwiegend im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses.
Brücke zur Politik bröckelt
Doch auch aus Sicht von IQWiG-Leiter Dr. Thomas Kaiser bröckelt die Brücke zur Politik. Als Beispiel nannte er beim Symposium in Köln die Diskussion über neue gentherapeutische Verfahren. Aussagen, dass Studien in diesem Bereich nur sehr schwer durchzuführen seien und Evidenz-Kriterien deshalb abgesenkt werden müssten, würden kaum konterkariert. Dabei gebe es seit zehn Jahren Erfahrung mit Genom- und Zelltherapie-Bewertungen, auch randomisierte Studien. „Wir müssen es schaffen, dass wir gehört werden und dass unsere Ergebnisse bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen“, so Kaiser.
„Gute Evidenz ist wertlos, wenn der Anschluss nicht passt.“
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB)
Die Frage, wie eine eher in Jahren denkende Wissenschaft die schnelllebige Politik erreicht, treibt nicht nur das IQWiG um. In Köln berichteten Forschende exemplarisch über ihr Bemühen um bessere Kommunikation. „Wir haben so viel Evidenz wie nie zuvor“, sagte Dr. Helena Ludwig-Walz vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB). „Gute Evidenz ist aber wertlos, wenn der Anschluss nicht passt.“
Dr. Eva Rehfuess von der Ludwig-Maximilians-Universität München stellte fest: „90 Prozent der Wissenschaftler denken erst am Ende ihrer Forschung an den Transfer in die Politik.“ In diesem Zusammenhang empfahl Politikberater Dr. Johannes Hillje: „Multidisziplinäre Forschungsteams können einen echten Mehrwert erzielen.“ Er riet dazu, das politisch Machbare im Blick zu behalten. So sei die präventionspolitisch begründete Forderung nach einer Zuckersteuer während der Ampelkoalition mit FDP-Beteiligung sinnlos gewesen.
Raus aus dem Elfenbeinturm
Als Beispiel für erfolgreiche Evidenz-Vermittlung nannte BiB-Mitarbeiter Professor Dr. Martin Bujard die Studie zu psychosozialen Belastungen von Eltern, Kindern und Jugendlichen während der Corona-Lockdowns in Deutschland. Die an aktuelle politische Erfordernisse angepasste, in wenigen Wochen umgesetzte Expertise habe zwar keine abrupte Abkehr von der „Flatten-the-Curve“-Strategie bewirkt, aber zum Umdenken der Politik beigetragen.
Kernaussagen aus Vorträgen und Diskussionen: Raus aus dem Elfenbeinturm, klare Botschaften, Einstellen auf die Informationsbedürfnisse des Gegenübers, „Policy Brief“ und Visualisieren statt 100-Seiten-PDF, aktuelle Anlässe nutzen und politische Realitäten erkennen, eigene Interessen offenlegen und – vor allem – Vertrauen aufbauen durch verlässliche Fakten, persönliche Kontakte und Dialogbereitschaft.
Vertrauen zählt
Aus dem von Zeitdruck und Informationsüberflutung geprägten Politikalltag berichteten der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich, Nordrhein-Westfalens Ex-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) und Boris Velter (SPD), zuletzt Chef des Leitungsstabs von Ex-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.
Ihre Botschaft: Politiker lesen keine langen Studien. „Am Ende treffen Menschen die Entscheidungen und da zählt das Vertrauen“, so Steffens. Gehört werde Wissenschaft, wenn sie Themen aufgreife, die Politiker und deren Wählerschaft umtrieben.
Ausgerechnet Medienmann Dr. Andreas Lehr stellte das Buhlen um die Aufmerksamkeit der Politik infrage: „Muss Wissenschaft nicht auch Fragen stellen, die gerade ausgeblendet werden?“ Auch dafür gab es Beifall – Wissenschaft lebt vom Diskurs.
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