Interview Prävention

„Hektisches Agieren in Krisen macht krank”

23.10.2023 Änne Töpfer 5 Min. Lesedauer

Um Bürgerinnen und Bürgern ein gesundes Leben zu ermöglichen, müssen Kommunen Präventionsstrategien in allen Politikfeldern verankern, sagt Wolfgang Schlicht. Denn Entscheidungen über Wohnraum, Mobilität, Grünzüge oder soziale Fragen beeinflussen die Bevölkerungsgesundheit.

Foto von Menschen, die über einen belebten Platz gehen. Im Hintergrund sind Bäume und gläseren Hausfassaden zu sehen.
Begrünte Bereiche in Städten wirken sich positiv auf die Bevölkerungsgesundheit aus.
Porträt von Wolfgang Schlicht, Sport- und Gesundheitswissenschaftler
Prof. Dr. Wolfgang Schlicht war von 2001 bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Sport- und Gesundheitswissenschaften der Universität Stuttgart. Seit seiner Emeritierung führt er das unabhängige Beratungsunternehmen „Evident-Research“.

Herr Professor Schlicht, Prävention und Gesundheitsförderung werden in Deutschland offenbar nicht mit der erwünschten Wirkung realisiert. Worauf führen Sie das zurück?
 
Prof. Dr. Wolfgang Schlicht: Ja, das ist schon ernüchternd, wenn man feststellen muss, dass die Bemühungen, die Bevölkerungsgesundheit zu mehren, nicht die Wucht entfalten, die man sich erhofft. Adipositas und Diabetes nehmen zu, die meisten bewegen sich im Alltag zu wenig, sitzen zu lange, und es gibt anderes, was an Risikoverhalten auffällt und von dem man doch längst weiß, dass es der Gesundheit schadet.

Um das individuelle Verhalten zu ändern, bemühen sich vor allem die Krankenkassen mit Engagement, Sachverstand und finanziellem Aufwand. Sie finden in epidemiologischen Studien Evidenz, für das was sie anbieten. Aber: Verhaltensänderung gehört zu den schwierigsten Zielen gesundheitspsychologischer Einflussnahme. Ein neu erlernter Lebensstil wird selten dauerhaft aufrechterhalten. Menschen neigen zu riskanten Gewohnheiten, weil ihnen das riskante Verhalten unmittelbaren Genuss beschert und/oder weil sie ihr individuelles Erkrankungsrisiko unterschätzen.

Gesundheitssoziologische Studien belegen zudem eine soziale Kluft: Wer unten in der Sozialhierarchie steht, verhält sich riskanter, ist kränker und stirbt meist früher als der, der oben steht. Ursächlich für die soziale Unwucht ist nicht in erster Linie, dass die Botschaften nicht verstanden wurden. Vielmehr sind Verwirklichungschancen für gesundes Verhalten oft durch fehlende Ressourcen wie Geld, Bildung oder sozialen Rückhalt eingeschränkt. Nicht alle haben in unserer Gesellschaft die gleichen Chancen auf ein gesundes Leben bis ins hohe Alter. Während die einen wollen und können, wollen die anderen auch, aber sie können nicht. Wir sollten in der Prävention und Gesundheitsförderung deshalb den Interventionsfokus stärker auf die Lebensumstände richten, um wirksamer zu werden.

„Nicht alle haben in unserer Gesellschaft die gleichen Chancen auf ein gesundes Leben bis ins hohe Alter. “

Prof. Dr. Wolfgang Schlicht

Sport- und Gesundheitswissenschaftler

Könnte kommunale Gesundheitsförderung zu einer höheren Wirkung der Prävention beitragen?
 
Schlicht: Ich will den Gewinn, den kommunale Gesundheitsförderung haben kann, mit einem Bild illustrieren, das der britische Public Health Forscher John B. McKinlay gemalt hat. Durch eine Kommune führt ein reißender Strom. Oben am Fluss, so McKinlay, weisen Schilder darauf hin, dass Menschen auf eigenes Risiko handeln, wenn sie den Fluss auf einem morschen Holzsteg überqueren wollen, um an Güter zu gelangen, die es auf der anderen Seite gibt – sie sollten es lassen. Ein Teil der Menschen verzichtet auf die Überquerung, andere gehen einen Umweg. Dann gibt es auch welche, die ein eigenes Boot nutzen, um an das andere Ufer zu gelangen. Nicht wenige aber – das sind die, denen es an Zeit fehlt oder sich kein Boot leisten können und auch die, die mit dem Risiko spielen – wagen sich trotz der Warnungen auf den maroden Steg. Das morsche Holz bricht ein, einige schaffen es dennoch an das andere Ufer, andere aber stürzen in den Strom. Sie werden vom Wasser mitgerissen und – wenn sie Glück haben – unten am Fluss noch aus den Fluten gerettet. Die Szene wiederholt sich solange, bis sich die Verantwortlichen oben am Fluss entschließen, die Brücke zu reparieren, statt auf deren Baufälligkeit nur hinzuweisen. So haben denn auch alle die Chance, sicher ans andere Ufer zu gelangen.

McKinlay wollte mit der Flussszene illustrieren, dass Bevölkerungsgesundheit profitiert, wenn Kommunen Bedingungen gesundheitsförderlich gestalten – wenn also, um im Bild zu bleiben, stabile Brücken gebaut werden. Derzeit überwiegt die an das Individuum gerichtete Risikokommunikation, oft auch mit erhobenem Zeigefinger. Geht das schief und sind Risikofaktoren wie Adipositas oder gar ein Prädiabetes bereits manifest, soll mit Versorgung Schlimmeres verhütet werden.

Welche Strategie stünde hinter einer kommunalen Gesundheitsförderung, die stromaufwärts ansetzt?

Schlicht: Mit dem gerade beschriebenen Bild sind policy-basierte Strategien der kommunalen Gesundheitsförderung angesprochen. Die adressieren vor allem auch Politikfelder, die mit Gesundheit scheinbar nichts zu tun haben. Sie gestalten die Bedingungen in der Gemeinde so, dass allen Bewohnerinnen und Bewohnern ermöglicht wird, sich gesund zu verhalten und Gesundheit zu fördern. Das Stichwort ist hier: Gesundheit in allen Politikfeldern.

Ein solches Vorgehen praktiziert beispielsweise aktuell Hannover. Die Stadt entwickelt ein Verkehrskonzept, dass dem Fuß- und Radverkehr den Vorzug vor dem Autoverkehr gewährt. Da gibt es mehr Kommunen, die das auf der Agenda haben. Viele von denen haben sich dem Gesunde-Städte-Netzwerk angeschlossen. Auch die Gemeinden, die Inklusion als verbindlichen Leitgedanken der politischen Befassung definiert haben, verfolgen eine policy-basierte Strategie. Und auch die Städte und Gemeinden, für die die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in einem Agenda-2030-Prozess das politische Handeln bestimmen, sind auf dem Weg. Die Konsequenzen der – beispielhaft genannten – Politiken zahlen auf die Gesundheit der Bevölkerung ein. Gesundheit wird in dieser Strategie nicht einfach als der negative Befund einer klinischen oder einer Laboruntersuchung verstanden, sondern im Sinne der WHO als die Bedingung der Möglichkeit, grundlegende körperliche und psychische Bedürfnisse zu befriedigen, nach persönlich wichtigen Zielen zu streben und am sozialen Leben teilzuhaben.

Um noch einmal das Bild des Stroms zu bemühen: Eine policy-basierte kommunale Strategie der Gesundheitsförderung baut begehbare Brücken. Sie betrachtet Entscheidungen für Baugebiete, Mobilitätskonzepte, Wirtschaftsförderung, Sozialpolitik und weitere Politikfelder durch eine Gesundheitslinse. Sie fragt kritisch, welche gesundheitlichen Konsequenzen es hat, wenn beispielsweise ein Baugebiet dort entsteht, wo es vorgesehen ist, wenn eine Luftschneise zugebaut wird, eine Bepflanzung angelegt oder eine Fassade begrünt wird, wenn Flächen an Bauern zum Ackerbau verpachtet werden, Verkehr umgeleitet und/oder Wasserflächen und Bachläufe versiegelt werden.

Warum ist der Begriff der Resilienz im Zusammenhang mit kommunaler Gesundheitsförderung für Sie von Bedeutung?

Schlicht: Wir stehen aktuell und auf längere Sicht vor großen Herausforderungen wie dem Klimawandel, der demografischen Entwicklung, dem Verlust der Biodiversität, der Bedrohung durch Viren und weiteren Herausforderungen, die sich alle zu Krisen auswachsen können und dann die Möglichkeitsräume aller, aber vor allem der sozial Schwächeren massiv einschränken. Kommunen sollten sich auf mögliche „schwarze Schwäne“ vorausschauend einstellen, um zu vermeiden, dass sie bei deren Auftauchen hektisch reagieren müssen, wie es in der Corona-Pandemie zu beobachten war.

Kommunen sind – wenn sie es richtig machen – die Treiber und die Profiteure der Transformationsprozesse, die das Gemeinwesen in eine sichere und demokratische Zukunft führen und auch zukünftigen Generationen ein gutes Leben ermöglichen. Sie müssen nachhaltige, resiliente Strukturen aufbauen und Prozesse definieren, die verhindern, dass in Krisensituationen das Vertrauen in die politischen und administrativen Institutionen brüchig wird und der gesellschaftliche Zusammenhalt leidet. Hektisches, hilfloses Agieren in Krisen vernichtet Verwirklichungschancen. Das macht letztlich krank, weil es verhindert, dass grundlegende körperliche und psychische Bedürfnisse befriedigt, persönlich wichtige Ziele erreicht werden und die Teilhabe am sozialen Leben gelingt.

Illustration: Verschiedene Scherenschnitte von Symbolen, die Bestandteile einer Kommune darstellen, wie Häuser, ein Auto, Windräder und Bäume, in brauner Farbe stehen auf einer Art Schiff vor dem Hintergrund einer grünen Wiese.
Sichere Rad- und Fußwege, saubere Luft, ausgedehnte Grünzüge, ruhige Wohnquartiere: Die Kommunen haben viel zur Gesundheit der Bevölkerung beizutragen. Dafür müssen sie Strukturen und politisches Handeln so verändern, dass die Widerstandskraft gegen Krisen zunimmt.
20.10.2023Wolfgang Schlicht12 Min

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