Rundruf Versorgung

Behandlung nach Geschlecht?

18.12.2023 Tina Stähler 5 Min. Lesedauer

Frauen zeigen bei Herzinfarkten andere Symptome als Männer und benötigen bei vielen Krankheiten andere Therapien. Wie lassen sich geschlechtsspezifische Unterschiede in Forschung und Medizin stärker berücksichtigen?

Foto: Ein Stethoskop liegt auf einer Regenbogenflagge.
Lange wurden Therapien nur an Männern erforscht.

Gender-Data-Gap schließen

Foto: Porträtbild von Priv.-Doz. Dr. Ute Seeland, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin.
Priv.-Doz. Dr. Ute Seeland, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin, habilitiert im Fach Innere Medizin/Geschlechtersensible Medizin an der Charité Berlin

Die Geschlechtersensible Medizin (GSM+) ist ein recht junges, komplexes Fach. Sie soll die Versorgung optimal für alle Geschlechter gestalten. Wir müssen die Menschen in ihren Lebensphasen, also mit ihren individuellen Hormonleveln verstehen. Denn Sexualhormone wirken sich direkt auf den Stoffwechsel und auf viele Organfunktionen aus. Bei der GSM+ geht es nicht nur um Frauen, sondern um alle Geschlechter. Das Plus steht für weitere Diversitätsfaktoren wie Alter, Bildung und sozioökonomischer Status als Beispiel.

Es gibt relativ wenige Daten zu transidenten Personen, da die individuelle Geschlechtsidentität bisher in der Ausbildung keine Rolle spielte. Auch Fragen zur Perimenopause, Menopause und bezüglich Präventionsmaßnahmen für Adoleszente müssen berücksichtigt werden. Hier existiert ein Gender-Data-Gap. Um dieses zu schließen, müssen wir ausreichend viele Personen in Studien einbinden, um Daten getrennt nach dem biologischen Geschlecht sowie dem Gender-Geschlecht auswerten zu können.

Geschlechtsspezifische Daten für ältere Medikamente fehlen zum Teil

Foto: Porträtbild von Dr. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB).
Dr. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB)

Die Entwicklung in der Medizin basierte sehr lange Zeit nur auf Daten, die in der Grundlagenforschung an männlichen Tieren erarbeitet wurden, beziehungsweise an Männern. Grund dafür war unter anderem, dass die Forschung sonst zyklusbedingte Hormonschwankungen hätte beachten müssen. Das macht Untersuchungen schwieriger, aufwendiger und teurer. In der Pharmaforschung gilt seit 2004: Medikamente, die für beide Geschlechter in Deutschland zugelassen werden sollen, müssen Männer und Frauen einbeziehen.

Für ältere Medikamente können allerdings geschlechtsspezifische Daten fehlen, und auch die neuen Studien haben teils noch Mängel. Seit etwa 30 Jahren ist der DÄB eine der treibenden Kräfte, um die Sensibilität beispielsweise in der medizinischen Lehre zu erhöhen. Auch Patientinnen und Patienten sind inzwischen wachsamer. Sie verstehen: Geschlechterspezifische Medizin ist Medizin für Frauen und für Männer und ein Schritt in Richtung individualisierter Medizin.

Ganzheitliche und gendersensible Herangehensweise gefordert

Foto: Porträtbild von Olaf Theuerkauf, Vorstand der Stiftung Männergesundheit.
Olaf Theuerkauf, Vorstand der Stiftung Männergesundheit.

Geschlechtsspezifische Unterschiede sollten in der Medizin stärker berücksichtigt werden. Aktuell scheint die Rolle des Geschlechts hier oft unterbewertet. Unterschiedliche biologische, genetische und hormonelle Merkmale zwischen Männern und Frauen können Einfluss auf Krankheitsverläufe und Therapieerfolge haben. Werden diese vernachlässigt, so besteht das Risiko, dass bestimmte Erkrankungen bei Männern zu spät erkannt oder falsch behandelt werden. Hierbei ist insbesondere an psychische Gesundheitsprobleme zu denken, die möglicherweise weniger offensichtlich sind. Eine verstärkte Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der medizinischen Forschung und Praxis ist daher von essentieller Bedeutung.

Wir fordern eine ganzheitliche und gendersensible Herangehensweise, um die Gesundheitsversorgung für Männer zu optimieren und individuell anzupassen. Nur so können wir sicherstellen, dass Diagnosen präziser gestellt und Therapieansätze effektiver gestaltet werden.

Diskriminierungsfreiere Gesundheitsversorgung ermöglichen

Foto: Porträtbild von Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Professorin für „Geschlechtersensible Medizin“ an der Universität Bielefeld.
Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Professorin für „Geschlechtersensible Medizin“ an der Universität Bielefeld

Die geschlechtersensible Medizin ist ein relativ neuer Ansatz, der die langjährige Fokussierung der medizinischen Forschung auf den männlichen Körper verändern möchte. Lange war ein gesunder, junger, männlicher Körper medizinischer Standard und Abweichungen davon „atypisch“. Erkrankungen, die besonders Frauen betreffen, wie Endometriose und Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue Syndrom, wurden lange weniger beforscht und die Betroffenen minder ernst genommen.

Durch einen Fokus auf biologische Geschlechterunterschiede und die Rolle von Genderaspekten – beim Zugriff auf Gesundheitsleistungen und in der ärztlichen Kommunikation – können Ungleichheiten aufgedeckt werden, denn sie sind nicht zu rechtfertigen. Dennoch werden Menschen nach wie vor in der Versorgung benachteiligt – aufgrund von Geschlecht, Herkunft, sozialer Lage und anderer Faktoren. Durch geschlechtersensible Medizin wollen wir eine diskriminierungsfreiere Gesundheitsversorgung ermöglichen.

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