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EM-Länder bei Digital Health unterschiedlich am Ball

12.07.2024 Irja Most 7 Min. Lesedauer

Den Anstoß für die Digitalisierung im Gesundheitswesen hat es in den EM-Ländern längst vor Anpfiff der aktuellen Fußball-Europameisterschaft gegeben. Die „Teams“ sind dabei höchst unterschiedlich am Ball, zeigt eine Umfrage der WHO Europe. David Matusiewicz, Experte für digitale Gesundheit, gibt eine Einschätzung gegenüber G+G.

Eine Europakarte auf einem Tablet zeigt, dass Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens im Mittelfeld liegt.
G+G hat die Fußball-Europameisterschaft zum Anlass genommen, um zu schauen, wie die teilnehmenden Länder bei der Digitalisierung ihrer Gesundheitssysteme aufgestellt sind.

Albanien hat es noch nie in die Endrunde einer Fußball-Europameisterschaft geschafft. Deutschland hingegen durfte bereits 14 Mal ins Finale einziehen und holte sich 1972, 1980 und 1996 den Titel. Bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen sieht die Welt jedoch ganz anders aus: Zu diesem Schluss kommt zumindest eine Umfrage unter den Mitgliedstaaten der WHO Europe. Diese ergab, dass Albanien gegenüber Deutschland deutlich auftrumpfen kann. Volle Punktzahl steht hier bei den zusammenfassenden Schlüsselergebnissen unterm Strich. Die hiesige Republik muss sich im Vergleich mit den 24 teilnehmenden EM-Teams mit dem Mittelfeld begnügen.

Albanien teilt sich Platz eins mit Belgien, Dänemark, Frankreich und Ungarn hinsichtlich Politik und Strategie der Länder bei ihren Anstrengungen für eine digitale Gesundheitsversorgung. In allen acht Kategorien konnten die Nationen eine Politik oder eine Strategie für digitale Gesundheit, für nationale Gesundheitsinformationssysteme, für Telegesundheit, Datenschutz, einen Aktionsplan zur Vermittlung von Digitalkompetenz, eine übergreifende nationale Datenstrategie sowie Regelungen zur Verwendung von Big Data im Gesundheitssektor und eine Interoperabilitätsstrategie vorweisen.

ePA für alle in Deutschland erst 2025

In Deutschland hapert es laut Erhebung aus dem Jahr 2022, die jetzt im April mit ausführlichen Länderprofilen veröffentlicht wurde, in drei Punkten: Es fehlen Pläne für ein nationales Gesundheitsinformationssystem, auf das Patientinnen und Patienten in Echtzeit zugreifen können, ein Aktionsplan, um die Bevölkerung in punkto digitaler Gesundheitskompetenz fit zu machen, sowie Regeln für den Umgang mit Big Data im Gesundheitssektor. Deutschland befindet sich bei diesen zusammenfassenden fünf von acht Punkten in Gesellschaft von Österreich, Tschechien und Rumänien.

Der Blick auf die individuellen Länderprofile, welche die WHO Europe aus den Antworten erstellt hat, zeigt beispielsweise bei den Mitteln detaillierter, dass Deutschland als Finanzierungsquellen zu 100 Prozent ausschließlich die öffentliche Hand angibt. In Albanien findet sich darüber hinaus noch eine nicht-öffentliche Finanzierung zu 37 Prozent und zu 39 Prozent Public-Private-Partnerships. Und während die elektronische Patientenakte (ePA) in der Umfrage für Deutschland auf bundesweiter Ebene schon positiv notiert ist, startet diese für alle frühestens ab dem 15. Januar 2025, um einen echten Nutzen zu bringen. Albanien verfügt über eine solche laut WHO-Erhebung bereits seit 2014. Das E-Rezept ist hier schon deutlich länger Realität als ein halbes Jahr – wie in Deutschland der Fall.

Experte für digitale Gesundheit sieht Vergleichbarkeit kritisch

Eine Aussage darüber, wie sich die Digitalisierung auf die Qualität der Gesundheitsversorgung in den einzelnen Ländern auswirkt, trifft die WHO-Erhebung nicht. Anliegen der Analyse sei es, Einblicke zu geben, wie jeder Mitgliedstaat strategisch durch die sich rasch entwickelnde Landschaft der digitalen Gesundheit navigiere. Eine direkte Vergleichbarkeit der Länder findet der Experte für digitale Gesundheit, David Matusiewicz, Dekan und Institutsdirektor für Gesundheit & Soziales an der FOM Hochschule, schwierig. Jedes Ranking habe seine eigene Gewichtung von Kriterien und beispielsweise allein innerhalb einer Universitätsklinik könne es eine Abteilung mit Spitzenmedizin neben einer weniger guten Abteilung geben, gibt er zu Bedenken. Daher sei der Vergleich ganzer Länder noch komplizierter.

So wie jedes Team im EM-Turnier seinen eigenen Charakter und Spirit hat, haben auch die Länder ihren eigenen kulturellen Hintergrund, vor dem die Ambitionen zur Digitalisierung zu betrachten seien. Wenn in einem Land Datenschutz und Datensicherheit nicht ganz so hoch gehangen werde, „haben sie mehr Möglichkeiten, digitale Dinge anzubieten, die heute aus Angst vor Regulation in Deutschland eben nicht möglich sind. Die wir zwar machen könnten, aber es nicht tun“, führt Matusiewicz im Gespräch mit G+G aus. So stehe ein Land augenscheinlich besser dar, „aber wir würden uns da als Deutsche ungern behandeln lassen, weil einfach die Mindeststandards an Qualitätssicherung und Datensicherheit nun mal nicht da sind“.

Gesetze führen nicht automatisch zur Versorgungsverbesserung

Ein Rückstand demgegenüber hierzulande: Geld allein schießt offensichtlich keine Tore. Bedenklich sei es, dass Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt habe und gemessen daran eher Mittelmaß beziehungsweise nicht gut genug sei. Seit 20 Jahren sei die elektronische Patientenakte ein Thema, doch bis heute gebe es sie nicht in der Fläche. Der Experte wertet neue Gesetze dabei nicht automatisch als Garant für eine bessere Versorgung. „Weil Gesetz ja erst mal Regulation, Haftung heißt. Ich muss Anwälte beauftragen, ich muss was prüfen, ich muss was dokumentieren“, so Matusiewicz. „Ich würde schon ganz provokativ sagen, jedes Gesetz, das nicht aus Berlin kommt, hilft dem Gesundheitswesen." Denn das würde bedeuten, dass Start-Ups und Unternehmen Dinge voranbringen könnten.

Ein positives Beispiel für digitale Gesundheit ist für den Experten bei der EM-Team-Auswahl die Schweiz. Hier hat Anfang März das Klinikinformationssystem (KIS) Epic aus den USA bei der Berner Inselgruppe Einzug gehalten. Laut Bericht der Schweizer Onlineplattform für das Gesundheitswesen „Medinside“ nutzen weltweit 2.000 Krankenhäuser Epic, in Europa sind es bislang lediglich 100. Weiter heißt es: Das Luzerner Kantonsspital habe vor gut vier Jahren als erstes Schweizer Spital und als erstes deutschsprachiges Spital weltweit Epic eingeführt. Dort läuft es unter dem Namen Lukis. Zum Start ruckelte es laut „Medinside“ jedoch gewaltig.

Berliner Charité sucht neues digitales Herzstück

Als das „digitale Herzstück in der Versorgung der Patienten und Patientinnen“ beschreibt Europas größtes Universitätsklinikum Charité in Berlin KIS. Die Einrichtung genießt mit einer aktuellen Ausschreibung auf der Suche nach einem neuen KIS besondere Aufmerksamkeit. Hier wird der Entscheidung über ein neues System mit ähnlicher Spannung entgegengefiebert wie derzeit der Frage nach dem neuen Fußball-Europameister. Abgabefrist für Angebote: Montag, 15. Juli 2024 - ein Tag nach dem EM-Finale.

Und ebenso wie die Euro 2024 die Menschen verschiedener Nationen zusammenbringt, hält Matusiewicz eine grenzüberschreitende Nutzung und Zusammenführung von Gesundheitsdaten für die europaweit betrachtet größte Errungenschaft: „Das wäre ein riesen Impact für die Forschung.“

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