Sexualisierte Gewalt ist ein Teil von übergriffigem Verhalten

Sexualisierte Gewalt ist in der Pflege keine Seltenheit. Darunter fallen nicht nur strafbare Handlungen, sondern auch scheinbar alltägliche Kommentare und Berührungen. Die Beratungsstelle „Pflege in Not Brandenburg“ geht gegen solche Missstände vor und unterstützt Betroffene.

Man sieht einen halben Stuhlkreis mit Menschen, von denen man den Rumpf abwärts sieht. Sie sitzen und haben die Hände in den Schoß gelegt.

Beschwerden nehmen zu

Beleidigende Bemerkungen, aber auch körperliche Übergriffe wie Grapschen oder auf den Hintern hauen: Beschwerden über sexualisierte Gewalt in der Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… haben bei der Beratungsstelle "Pflege in Not Brandenburg" zugenommen und machen inzwischen 20 Prozent der Fälle aus, in denen Gewalt eine Rolle spielt, berichtet Helga Zeike. Sie ist eine der Beraterinnen an dem Standort in Nordostdeutschland. Hier erreicht man eines der bundesweiten Krisentelefone, die sich 1999 als Anlaufstelle für Betroffene in der Pflege älterer Menschen als Bundesarbeitsgemeinschaft der Beratungs- und Beschwerdestellen (BAG) zusammengeschlossen haben, um Missstände in der Pflege zu bekämpfen. 

Bei den sexualisierten Angriffen auf Mitarbeitende in der Pflege gehe es gezielt darum, die Pflegekräfte zu beschämen oder unter Druck zu setzen, erklärt Zeike. "Es gibt beispielsweise Pflegebedürftige, die Porno-Zeitschriften rumliegen lassen oder ständig derartige Filme gucken, gerne den Fernseher fünf Minuten vorher anmachten, bevor der Spätdienst zum Nachtfertigmachen durchgeht. Auch zweideutige Bemerkungen beim Waschen oder bei der körperlichen Unterstützung sind typisch", berichtet die Pflege-Expertin. Häufig trifft es unerfahrene Pflegende, die neu sind und sich nicht so leicht wehren können.

Übergriffe als Arbeitsunfall melden

Sexualisierte Gewalt findet sich gleichermaßen im ambulanten sowie im stationären Bereich. Sie kann sowohl von Pflegebedürftigen als auch von Pflegepersonal oder Angehörigen ausgehen. "Das ist ein großer Graubereich und die Dunkelziffer ist ähnlich wie bei häuslicher Gewalt nach wie vor hoch", sagt Zeike. Dabei handele es sich bei den vorsätzlichen Übergriffen grundsätzlich um Straftaten. Sexualisierte Gewalt in der Pflege werde aber viel zu selten angezeigt. Wichtig sei, dass Betroffene das grundsätzlich ernst nehmen und nicht einfach wegdrücken. Laut der Expertin entwickelt die Hälfte der Pflegenden posttraumatische Problemlagen, leidet an Schlafstörungen oder wird sogar arbeitsunfähig. 

Die Grundhaltung in der Pflege sei immer noch: „Ich schaffe das schon, ich arbeite einfach weiter. Da gibt es noch viel Emanzipationsarbeit zu leisten und das Bewusstsein zu stärken: Ich bin hier ein Profi, ich mache meine Arbeit und mein Körper ist meiner - der gehört überhaupt nicht zur Verhandlungsmasse“, betont die BAG-Beraterin. Der Pflegeberuf werde immer noch sehr stark vermischt mit Aufopferungsvorstellungen, die man der Pflege im Allgemeinen andichte und das mache es vielen Mitarbeitenden so schwer ihre eigenen Rechte einzufordern. "Viele Betroffenen wissen nicht, dass die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege einen sexualisierten Übergriff als Arbeitsunfall anerkennt und Unterstützungsmöglichkeiten mit telefonischen Coachings bei erfahrenen Trauma-Therapeuten anbietet", erläutert BAG-Beraterin Zeike.

Präventionsarbeit sollte gesetzlich vorgeschrieben sein

Die BAG bietet am Standort "Pflege in Not Brandenburg" Coachings zur Bewältigung von Gewaltsituationen in der Pflege an. Alle Krisentelefone begleiten mit eigenen Angeboten schwierige Pflegesituationen, denn sexualisierte Gewalt ist nur ein Teil von aggressivem und übergriffigem Verhalten, das in der Pflege älterer Menschen sowohl in der Häuslichkeit als auch im stationären Bereich auftreten kann. Ebenso wie die BAG setzen andere Einrichtungen wie die der Barmherzigen Brüder Rilchingen gGmbH (BBT-Gruppe) auf Präventionsarbeit, um professionell Pflegende im Umgang mit sexualisierter Gewalt zu schulen. 

Die BBT-Gruppe hat sich bewusst für die Schulungen entschieden. „Wir stellen uns diesem Thema und haben den Prozess in unserer Einrichtung fest etabliert“, führt Sandra Didas-Adam, Pflegedienstleiterin im Bereich stationäre Seniorendienste bei der BBT-Gruppe, aus. In den Tagesseminaren wird darüber aufgeklärt, wo sexualisierte Gewalt beginnt, wie man sich diesen Situationen stellt und an wen sich das Pflegepersonal wenden kann. Ihrer Ansicht nach sollten Teams geschult und vorbereitet sein, um im konkreten Fall handlungsfähig zu sein. 

Verpflichtend sind solche Schulungen für Pflegeeinrichtungen in Deutschland nicht. Sowohl Didas-Adam als auch Zeike wünschen sich, dass solche Präventionscoachings gesetzlich vorgeschrieben werden. Auch eine Thematisierung in der Pflege-Ausbildung wäre begrüßenswert. "Denn es darf nicht von den Lebensumständen und der Handlungsfähigkeit der Betroffenen abhängen, ob sie Schutz finden oder nicht", unterstreicht Zeike. 

Umgang mit Demenzerkrankten ist eine besondere Aufgabe

Der Umgang mit Demenzerkrankten ist für Pflegende eine besondere Herausforderung, gerade wenn es um Belästigungen oder sogar sexualisierte Übergriffe geht. "Bei dementen Pflegebedürftigen sind oft die Bereiche beeinträchtigt, die das Sozialverhalten und damit die sexuelle Impulshaftigkeit steuern", erklärt die Pflege-Expertin Helga Zeike. Aus diesem Grund können Pflegende mit den Betroffenen nicht mehr klar kommunizieren, wie mit einem geistig gesunden Menschen.

Zeike bemängelt, dass es zu wenige Spezialeinrichtungen für psychiatrisch aufgeladene Demenzerkrankungen gibt. Menschen mit solchen Erkrankungen können für Mitarbeitende gefährlich werden. "Diese Bedürftigen können nichts dafür und müssen auch versorgt werden. Da gibt es einen großen Bedarf, der nicht abgedeckt ist in ganz Deutschland."

Eine Methode, mit sexualisierter Gewalt durch Demenzerkrankte umzugehen, ist die sogenannte Validation in der Altenpflege. Hierbei handelt es sich um eine bedürfnisorientierte und wertschätzende Gesprächsführung. Dabei geht es darum, versuchte Übergriffigkeit frühzeitig zu erkennen und abzuwenden. "Läuft beispielsweise ein Heimbewohner auf eine Pflegerin zu und versucht sie an der Brust zu berühren, so kann dahinter der Impuls stecken: 'Ich bin ein wertvoller Mensch und suche Anerkennung‘, und dieses Bedürfnis wird dann in einer sexualisierten Verhaltensweise ausgedrückt‘", erläutert Zeike.

Eine angemessene Reaktion wäre, den Impuls körperlich abzuwehren und ein Gespräch anzufangen, um die Situation zu entspannen. Etwa so: "‘Da sind Sie ja. Wie schön, Sie zu sehen. Wollen wir nicht einen Kaffee trinken gehen?‘ Und ihn dann in sein Zimmer zu begleiten und ihm hier einen Kaffee anzubieten."

Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen sind einem hohen Risiko ausgesetzt, sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt bei der Arbeit zu erleiden. Das fand die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) 2021 in einer Studie heraus. Häufigste Form ist demnach die verbale, gefolgt von der nonverbalen sexuellen Belästigung. Aber auch von körperlichen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigung berichteten die Befragten. 

Folgen für die Betroffenen sind der Untersuchung zufolge emotionale Erschöpfung, Depressivität und psychosomatische Beschwerden. Die Befragung unter 901 professionelle Pflegenden ergab, dass gerade nonverbale sexuelle Belästigung und Gewalt häufig nicht als Belästigung wahrgenommen wird. Diese führt aber sehr wohl zu Beeinträchtigungen des Wohlbefindens bis hin zur Absicht, die Stelle zu kündigen.

Präventive Hilfe können laut weiterer Studien Gewaltmanagementkonzepte bieten. Durch sie fühlen sich die Beschäftigten weniger stark belastet bei Vorfällen. Denn ein systematisches Gewaltmanagementkonzept bietet eine strukturierte Vorgehensweise im Fall der Fälle und setzt nicht erst bei der Verhinderung körperlicher Gewalt an. Ein Drittel der Befragten in der Studie wusste nicht, dass es solche Maßnahmen in der Pflegebranche gibt.