Verstehen ist der Schlüssel zur Welt von Demenzkranken

In einem Interview erklärt Dr. Andrea Kimmel, Seniorberaterin im Team Qualitätsprüfungen beim Medizinischen Dienst Bund, wie es gelingen kann, Zugang zu demenzkranken Menschen zu finden.

Eine ältere Frau spielt mit einer Pflegekraft gemeinsam ein Brettspiel am Tisch.
Demenz in der Pflege: Beschäftigung
Das Porträt zeigt Dr. Andrea Kimmel. Sie hat blonde schulterlange Haare und trägt ein dunkles Hemd.
Dr. Andrea Kimmel, MD Bund

Zu den Aufgaben der Medizinischen Dienste gehört es, die Pflegequalität in stationären Einrichtungen zu prüfen. Welche Rolle spielt dabei das Thema Gewalt in der Pflege?

Dr. Andrea Kimmel: Bei den Prüfungen geht es um die pflegerische Versorgungsqualität. Die Prüfungen haben dabei zwei wesentliche Funktionen: Einerseits die Beratung der Pflegeeinrichtungen zur Qualität ist ein zentrales Versorgungsziel der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Im Rahmen der… und andererseits der Schutz der pflegebedürftigen Menschen. Bei den Prüfungen schauen sich Prüferinnen und Prüfer die Situation pflegebedürftiger Menschen genau an. Es geht um Bereiche wie Medikamentengabe oder Schmerzmanagement. Aber auch besondere Bedarfe oder Versorgungssituationen stehen im Fokus, wie beispielsweise die Unterstützung von Menschen mit Demenz oder der Umgang mit psychischen Verhaltenssymptomen. Auch der Schutz von Persönlichkeitsrechten und die Unversehrtheit werden in den Blick genommen. Diese Aspekte können direkt und indirekt mit dem Thema Gewalt zusammenhängen. Ein Beispiel: Wenn etwa einer Person mit Demenz, die einen großen Bewegungsdrang hat, Kleidung weggeschlossen wird, damit sie nicht rausgeht, ist das eigentlich Gewalt in Form von Freiheitsentzug. Hier setzt der beratungsorientierte Prüfansatz des Medizinischen Dienstes an.

Mit welchen Konsequenzen müssen Einrichtungen in solchen Fällen rechnen?

Kimmel: Stellen wir Auffälligkeiten in der Versorgungsqualität fest, dann beraten wir Leitungskräfte und das Pflegepersonal dazu. Das bedeutet, die Prüferinnen und Prüfer machen darauf aufmerksam, wie die Maßnahmen auf die pflegebedürftigen Menschen wirken und wie die Einrichtung in der bemängelten Situation besser agieren kann. Oft handelt es sich um vermeintliche Unachtsamkeiten, die aber eine große Wirkung auf die pflegebedürftigen Menschen haben können. Nicht selten sind es die Rahmenbedingungen in den Einrichtungen, die dazu führen. Wenn zum Beispiel die Personaldecke ausgedünnt ist, dann ist es aus Sicht der Pflegeperson in der Alltagshektik einfacher, eine inkontinente und in ihrer Mobilität eingeschränkte Person mit einer Vorlage zu versorgen, anstatt sie beim Toilettengang zu begleiten. Genau genommen handelt es sich dabei um mangelnde Unterstützung oder Vernachlässigung, weil man nicht adäquat auf die Bedürfnisse der Menschen eingeht. Vielen Pflegenden ist das gar nicht bewusst. Wenn Prüferinnen und Prüfer solche Situationen ansprechen, sind sie häufig unangenehm berührt. Bei eklatanten Qualitätsmängeln folgen auch andere Maßnahmen. Die Landesverbände der Pflegekassen können dann Bescheide gegenüber den Pflegeeinrichtungen erlassen, in denen Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungsqualität gefordert werden. In seltenen und sehr gravierenden Fällen können die Landesverbände der Pflegekassen auch den Versorgungsvertrag mit den Pflegeeinrichtungen kündigen. Hier kommt dann die Schutzfunktion der Qualitätsprüfungen zum Tragen.

Vor allem die Pflege von Menschen mit Demenz ist für Pflegende mit besonderen Herausforderungen verbunden. Kritische Situationen kommen dabei nicht selten vor. Was können Pflegeeinrichtungen tun, um solchen Situationen vorzubeugen?

Kimmel: Als erstes gehört es anerkannt, dass alle, die Menschen mit psychischen Verhaltenssymptomen pflegen, fachlich und menschlich unglaublich gefordert sind. Das Besondere bei Menschen mit Demenz ist, dass sie sehr verletzlich sind. Sie können sich nicht mehr vor Umwelteinflüssen schützen, so wie wir das können. Viele Verhaltensweisen, die Pflegende als herausfordernd oder anspruchsvoll beschreiben, wie beispielweise Aggressivität, lautes Rufen und Schreien oder das Umherlaufen, haben oft mit solchen Umwelteinflüssen zu tun und sind nicht zwangsläufig Folgen der Erkrankung. Sie können eben auch Reaktionen auf das Verhalten von Pflegepersonen sein. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Pflegenden Menschen mit Demenz in den verschiedenen Alltagssituationen sehr gut beobachten, um zu analysieren, wodurch bestimmte Verhaltensweisen verursacht sein könnten. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kimmel: Wenn zum Beispiel jemand aggressiv bei der Morgenpflege reagiert, schreit und sich wehrt, dann kann das auch damit zu tun haben, dass die Pflegeperson den Pflegebedürftigen mit einem kalten Waschlappen berührt hat oder viel zu früh und zu laut aus dem Schlaf gerissen hat. Deshalb ist es wichtig, dass Pflegende sich mit den Ursachen für solche Verhaltenssymptome auseinandersetzen und das eigene Handeln reflektieren. Das gelingt zwar nicht immer. Aber es gibt inzwischen viele Instrumente und Methoden, die dabei helfen können. Dazu zählt die verstehende Diagnostik. Darauf weist auch der Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Versorgung von Menschen mit Demenz hin.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Kimmel: Es geht darum, zu verstehen, was die Person mit ihrem Verhalten eigentlich sagen will. Was ist die Botschaft, die sich dahinter verbirgt? Dabei haben sich regelmäßige Fallbesprechungen bewährt. Idealerweise sind dort alle Personen, die an der Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… , Versorgung und Betreuung beteiligt sind, vertreten. Gemeinsam überlegen sie, warum die Person auf diese Wiese reagiert und analysieren das Verhalten aus unterschiedlichen Perspektiven. Auf dieser Grundlage lassen sich im Rahmen einer kollegialen Beratung Interventionspläne erstellen, die der betroffenen Person am besten gerecht werden. Dies kann helfen, auf medikamentöse Interventionen zu verzichten. Das wäre auch im Sinne der Gewaltprävention.  

Welche Möglichkeiten gibt es noch?

Kimmel: Es gibt auch Instrumente, die helfen, die Lebensqualität und das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz einzuschätzen. Da geht es darum, herauszufinden, wie das Umfeld oder das Handeln von Pflegepersonen das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Menschen mit Demenz beeinflussen, und zwar positiv wie negativ. Beispiele für solche Instrumente sind das Dementia Care Mapping (DCM) oder das Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz – für die Qualitätssicherung in Pflegeeinrichtungen, kurz H.I.L.DE – QS. Das Letztere haben wir gemeinsam mit dem Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg entwickelt und implementiert. Dieses Instrument lässt sich beispielsweise bei der Einarbeitung von neuen Mitarbeitenden oder bei regelmäßigen Supervisionen einsetzen. 

Und wie funktioniert das?

Kimmel: Es funktioniert durch Beobachtung und Reflexion. Man schaut also, was in einer bestimmten Situation, etwa bei der Morgenpflege, genau passiert; Was tut die Pflegeperson, und wie reagiert der oder die Pflegebedürftige? Auf diese Weise bekommen Pflegende einen besseren Blick dafür, wann sich der Mensch mit Demenz wohlfühlt und wovor er oder sie Angst hat. Aus der Praxis wissen wir, dass dies häufig zu Aha-Erlebnissen führt. Denn es sind nicht selten banale Dinge, die leicht zu ändern sind, aber eine große Wirkung für Menschen mit Demenz haben und natürlich auch für das Pflegepersonal. Denn zufriedene Bewohnerinnen und Bewohner, die sich wohlfühlen, geben auch den Pflegenden ein gutes Gefühl. Solche Instrumente einzusetzen, kostet Zeit und Ressourcen, aber die Erfahrungen aus den Pflegeinrichtungen zeigen, dass es sich lohnt. Inzwischen gibt es auch gute Angebote und Konzepte, für den Umgang mit demenziell Erkrankten und für gewaltfreie Pflege generell. Sie kommen aber eher schleppend in der Praxis an, weil es an zeitlichen und personellen Ressourcen in Pflegeinrichtungen fehlt. Erfolgreich können sie aber nur dann sein, wenn die gesamte Einrichtung dahintersteht, und die Einrichtungsleitung sich gewaltfreie Pflege zur Aufgabe macht. 

Welche Unterstützung bieten da die Krankenkassen beziehungsweise die Medizinischen Dienste?

Kimmel: Die Einrichtungen können sich zum Thema gewaltfreie Pflege von den Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… beraten lassen. Sie unterstützen im Rahmen ihres Präventionsauftrags auch, wenn Pflegeeinrichtungen ein Konzept zur gewaltfreien Pflege entwickeln wollen. Themen, die ihnen wichtig sind, können Pflegeheime während der Prüfungen ansprechend. Zwar haben während der Corona-Pandemie fast keine Qualitätsprüfungen stattgefunden. Die Medizinischen Dienste waren aber trotzdem da und haben Einrichtungen unterstützt, zum Beispiel bei der Umsetzung von Hygienekonzepten. Außerdem bündeln wir als Gemeinschaft der Medizinischen Dienste Wissen zu bestimmten Themen und veröffentlichen regelmäßig Handlungsempfehlungen für die Pflegebranche. Zuletzt haben wir das Thema Umgang, Pflege und Begleitung von Menschen mit Demenz aufbereitet. Pflegeeinrichtungen finden Informationen zur verstehenden Diagnostik, zur nicht-medikamentösen Therapie und Pflegeansätzen und weiterführende Links zum Thema.