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Das Krebs-Stigma abstreifen – Verbände fordern ein „Recht auf Vergessenwerden“

16.02.2024 Thorsten Severin 6 Min. Lesedauer

Nach einer überstandenen Krebserkrankung wollen die Betroffenen in der Regel neu durchstarten – im Job, im Studium oder in der Ausbildung und privat. Junge Menschen etwa möchten sich eine Existenz aufbauen, vielleicht eine Familie gründen. Doch die zurückliegende Krankheit ist wie ein Stigma und legt ihnen teils lebenslang Steine in den Weg.

Foto: Ein Wegweisersystem mit roten Steinen, dazwischen liegt ein Stein.
Menschen, die einmal an Krebs erkrankt waren, treffen auch nach Therapieende auf viele Benachteiligungen im Alltag.

In Deutschland erkranken fast 500.000 Menschen pro Jahr an Krebs. Darunter sind laut der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs 16.500 Menschen im Alter zwischen 18 und 39 Jahren sowie 2.100 Kinder und Jugendliche. Mehr als 80 Prozent dieser jungen Patientinnen und Patienten können dank des medizinischen Fortschritts heute geheilt werden. „Für sie ist eine Krebserkrankung oft nur eine Episode, eine Lücke im Lebenslauf“, beschreibt die Kuratoriumsvorsitzende Professorin Inken Hilgendorf. „Danach möchten sie zurück in den Alltag finden.“

Viele Benachteiligungen für Krebsüberlebende im Alltag

Allerdings treffen sie auf viele Benachteiligungen. So etwa bei der Aufnahme von Krediten, dem Abschluss von Versicherungen wie Zusatz- oder Lebensversicherungen, bei Verbeamtungen oder bei Adoptionsbemühungen. Als klassisches Beispiel gilt die Absicherung der eigenen Arbeitskraft durch eine Berufsunfähigkeitsversicherung. „Mit einer zurückliegenden Krebserkrankung ist ein Abschluss nahezu unmöglich“, beschreibt Stiftungssprecher Felix Pawlowski. „Das gilt auch für diejenigen, die beispielsweise als Kinder erkrankt waren und 20, 25 oder 30 Jahre später solche Leistungen in Anspruch nehmen wollen.“

Carmen Flecks vom Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums verweist in diesem Zusammenhang auf die Gesundheitsfragen, die Versicherungsunternehmen regelmäßig vor einem Vertragsabschluss zu aktuellen und zurückliegenden Erkrankungen stellen. „Für Krebsbetroffene besteht dabei ein erhöhtes Risiko, dass das Versicherungsunternehmen den Vertragsabschluss ablehnt, bestimmte Risiken ausschließt oder eine höhere Prämie festlegt“, erläutert die Juristin. Die Gesundheitsfragen müssten immer wahrheitsgemäß beantwortet werden. „Wenn Antragsteller falsche oder unvollständige Angaben machen, kann das Versicherungsunternehmen später den Vertrag wieder auflösen“, so Flecks. Regelmäßig seien dann bereits gezahlte Versicherungsbeiträge samt Versicherungsschutz verloren. Im schlimmsten Fall könne es bedeuten, dass bereits über Jahre erhaltene Rentenzahlungen zurückgezahlt werden müssten. Banken wiederum stellen zwar keine Fragen zur Gesundheit, sie wollen aber häufig über Lebens-, Berufsunfähigkeits- oder Restschuldversicherungen sicherstellen, dass ein Kredit zurückgezahlt wird. Doch eben diese Versicherungen können für Krebsbetroffene schwierig sein.

Auch bei Verbeamtungen kann es für Überlebende problematisch werden, denn der Dienstherr entscheidet über die gesundheitliche Eignung des Bewerbers. Dabei gibt es laut der Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs einen „weiten Einschätzungsrahmen“. Nicht zuletzt bei angestrebten Adoptionen wird ein Gesundheitszeugnis verlangt. Dies stellt laut der Organisation nicht selten ein wesentliches Hindernis für eine Adoption dar. Eine solche ist jedoch für viele ehemalige Krebspatienten die einzige Möglichkeit, sich einen Kinderwunsch zu erfüllen, denn Unfruchtbarkeit ist eine häufige Folge von Chemotherapien.

Bemühungen auf EU-Ebene

Um die Benachteiligungen und Diskriminierungen zu beenden, plädieren die Stiftung sowie Verbraucherschutzverbände für ein „Recht auf Vergessenwerden“. Die im September 2023 vom Europäischen Parlament verabschiedete EU-Verbraucherkreditrichtlinie beschreibt ein solches „Right to be forgotten“ für onkologische Erkrankungen, wenn Versicherungen im Zusammenhang mit Verbraucherkreditvereinbarungen abgeschlossen werden sollen. „Wir fordern die sofortige Umsetzung der Richtlinie auch in Deutschland“, sagt Pawlowski. Darüber hinaus habe die Bundesregierung die Chance, selbst die Initiative zu ergreifen. „Andere EU-Mitgliedsstaaten haben es vorgemacht: Auch die Bundesregierung muss die Notwendigkeit eines Rechts auf Vergessenwerden erkennen und aktiv werden.“ Viele Themen wie Verbeamtung oder Adoptionen könnten ohnehin nur national geregelt werden.

Auch der Krebsinformationsdienst verweist auf die Vorteile eines „Rechts auf Vergessenwerden“: „Es würde Krebsüberlebenden denselben Zugang zu privaten Versicherungen ermöglichen wie Menschen, die nicht von Krebs betroffen waren“, betont Juristin Flecks.

Stiftung fordert „Recht auf Vergessenwerden“ nach fünf Jahren

Länder wie Frankreich, Portugal, Belgien, Italien und Spanien haben bereits entsprechende Regelungen eingeführt. Die Zahl der Jahre, die vergehen muss, damit ein medizinischer Zustand als „vergessen“ gilt, variiert dabei. Die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs hat hier für Deutschland klare Vorstellungen. Kuratoriumsvorsitzende Hilgendorf verweist darauf, dass die Europäische Gesellschaft für Onkologie (ESMO) für alle Altersgruppen eine Fünf-Jahres-Schwelle für das Recht auf Vergessenwerden empfehle. „Aufgrund der kontinuierlichen Fortschritte in der Therapie von Krebserkrankungen und der damit einhergehenden Verbesserung der Heilungsrate und des Gesamtüberlebens erachten wir diesen Zeitrahmen als angemessen“, so die Jenaer Onkologin. Allerdings gehe es weniger darum, dass eine betroffene Person die Krebserkrankung nicht mehr nennen müsse. „Es geht vielmehr darum, dass Finanz- und Versicherungsdienstleister, Ämter und Arbeitgeber den Fakt einer zurückliegenden Krebserkrankung nicht mehr heranziehen dürfen, um die Betroffenen zu benachteiligen, ihnen Abschlüsse zu verwehren oder ihnen schlechtere Konditionen anzubieten.“

Über alle Altersgruppen hinweg leben Experten-Schätzungen zufolge in der Bundesrepublik etwa 4,5 Millionen Menschen mit oder nach Krebs. Bei 2,6 Millionen „Cancer Survivors“ liegt die Krebsdiagnose fünf oder mehr Jahre zurück. Für sie „bewegt sich einiges“, wie Pawlowski feststellt – vor allem auf Brüsseler Ebene. So wird bereits im EU-Plan zur Krebsbekämpfung aus dem Jahr 2021 unter der Überschrift „Verbesserung der Lebensqualität von Krebsleidenden und Überlebenden“ ein gleichberechtigter Zugang zu Finanzdienstleistungen als Ziel formuliert. Das in einzelnen Staaten geltende „Right to be forgotten“ wird von der EU-Kommission als positives Beispiel erwähnt. Nun müssen aus Sicht der Betroffeneninitiativen Taten folgen. „Die Benachteiligungen müssen endlich aufhören“, mahnt Pawlowski.

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