„Wir müssen besser über Frauen Bescheid wissen“
Trotz positiver Entwicklungen in den letzten Jahren orientieren sich Diagnose- und Therapieverfahren noch immer viel zu häufig am männlichen Standard. Dabei haben Frauen oftmals andere Krankheitssymptome als Männer und benötigen spezielle Therapien. Wie sich geschlechtsspezifische Unterschiede in Forschung und Medizin stärker berücksichtigen lassen, erläutert die Expertin für Gender-Medizin, Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek, im Interview mit G+G.

Frau Professorin Regitz-Zagrosek, Männer und Frauen zeigen oftmals unterschiedliche Symptome bei Krankheiten. Können Sie uns ein Beispiel geben?
Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek: Frauentypische Symptome beim Herzinfarkt, wie starke Übelkeit, starke Schwäche und Schweißausbruch sind häufig nicht als solche bekannt. Dementsprechend kommen die Frauen immer noch später mit einem akuten Herzinfarkt zur Behandlung. Wir müssen besser über Frauen Bescheid wissen. Das zeigt sich generell zum Beispiel bei der Herzgesundheit. Vor allem jüngere Frauen haben ein anderes Spektrum an Herzerkrankungen als Männer. Verkrampfungen der Herzkranzgefäße, Längseinrisse oder funktionelle Störungen der kleinen Herzkranzgefäße sind bei Frauen häufiger. Die Symptome entsprechen oft nicht den klassischen Beschwerden der Männer bei Arteriosklerose.

Was heißt das für die Behandlung?
Frauen brauchen bei solchen Erkrankungen eine maßgeschneiderte Therapie. Arzneimittel müssen deshalb von Anfang an für Männer und Frauen entwickelt und in Studien getestet werden. Wichtig ist auch, dass wir bei der Forschung nicht nur an Krankheiten generell denken. Auch Risikofaktoren müssen abhängig vom Geschlecht und Alter beurteilt werden. Stress, Rauchen oder Diabetes unterscheiden sich in ihren Auswirkungen bei Frauen und Männern. Diagnostische Strategien müssen unbedingt für Frauen und Männer angepasst werden. Nur so können bildgebende Verfahren optimal und kostengünstig eingesetzt werden.
Nochmal zur Forschung: Wird denn auch nur an männlichen Tieren geforscht? Beziehungsweise gibt es meist nur männliche Probanden?
Regitz-Zagrosek: Die tierexperimentelle Entwicklung findet meist an der jungen männlichen Maus statt und an Mausmodellen, die die männlichen Krankheitsbilder imitieren. Substanzen, die nur an weiblichen Tieren oder bei typisch weiblichen Krankheitsbildern wirken würden, haben so gar keine Chance entdeckt zu werden. Bei den klinischen Prüfungen ist es so: Sie finden ganz überwiegend an jungen Männern statt. Bei den großen Zulassungsstudien finden sich Geschlechterunterschiede selten im Prüfprotokoll und es werden oft noch überwiegend Männer eingeschlossen. In weniger als zwölf Prozent der Studien werden Wirkungen und Nebenwirkungen spezifisch für Männer und Frauen veröffentlicht, auch wenn sie bekannt sind. Dies muss Pflicht für alle Berichte über klinische Studien werden.
„Frauen brauchen (...) eine maßgeschneiderte Therapie. “
Seniorprofessorin an der Charité Berlin
Was bedeutet das für die Dosierung von Arzneimitteln? Sind Medikamente in der Anwendung bei Frauen deshalb zum Teil falsch dosiert?
Regitz-Zagrosek: In Medikamentenstudien sind häufig beide Geschlechter eingeschlossen, aber ohne geschlechtsspezifische Analyse in Bezug auf Wirkungen und Nebenwirkungen, obwohl die wirksamen Dosierungen bei Männern, die 90 Kilogramm wiegen, deutlich höher sein können als bei Frauen mit 50 Kilogramm. Die Speicherung von Arzneimitteln im Fettgewebe, der Ab- und Umbau in der Leber, die Wechselwirkung mit Sexualhormonen und die Ausscheidung unterscheiden sich bei beiden Geschlechtern. Vergessen wir das, so sind die einen über- und die anderen unterdosiert. Deshalb brauchen wir mehr Forschung zu Gesundheitsdaten – spezifisch für Frauen und Männer.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Regitz-Zagrosek: Wir brauchen ein besseres Bewusstsein für die gesundheitlichen Unterschiede von Männern und Frauen. Das schließt nicht nur Ärztinnen und Ärzte mit ein, sondern natürlich auch die Patientinnen selbst sowie die Forscherinnen, Versorger und Politikerinnen. Die uns bekannten Fakten müssen auch in Ausbildung und Studium in allen medizinischen Fächern rechtzeitig kommuniziert werden. Nur so schaffen wir es, die Gender-Gaps zu überwinden.
Zur Person
Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek war von 2008 bis 2019 Direktorin des Berlin Institute for Gender in Medicine (GiM) an der Charité, Universitätsmedizin Berlin und ist derzeit Seniorprofessorin an der Charité Berlin. Die Internistin und Kardiologin hat die deutschlandweit einzige Professur für Frauenspezifische Gesundheitsforschung mit Schwerpunkt Herz-Kreislauf-Erkrankungen inne. Sie erforscht Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Männern und Frauen bei Herzerkrankungen und die Verbesserung der Therapie für beide. Für ihren Einsatz rund um die Gendermedizin ist sie mit dem Bundesverdienstkreuz und der Paracelsus Medaille, der höchsten Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft, ausgezeichnet worden.
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