Interview Gesundheitssystem

„Wir brauchen eine individuellere Betrachtungsweise“

03.04.2024 Vera Laumann 4 Min. Lesedauer

Dr. Hildegard Seidl von der München Klinik Schwabing erklärt die Defizite in der Gendermedizin und zeigt, welche Folgen eine Fehlkommunikation haben kann.

Ärztin unterhält sich mit einer Patientin
Eine gute Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist mitentscheidend für den Behandlungserfolg.

Liebe Frau Dr. Seidl, was ist Ihrer Meinung nach das größte Defizit in der Gendermedizin?

Dr. Hildegard Seidl: In der Medizin erfolgt die Auswertung von Studien meist allgemein und nicht differenziert nach Geschlechtern. Da muss sich noch einiges ändern.

Können Sie das bitte genauer erklären?

Dr. Seidl: In neuen Studien werden Männer und Frauen zwar anteilmäßig rekrutiert, also nach der Häufigkeit der Erkrankungen in der Bevölkerung. Aber das nützt nichts, wenn die Daten nicht getrennt ausgewertet werden, denn so können keine Unterschiede festgestellt werden. Eine getrennte Auswertung ist nicht vorgeschrieben. Außerdem laufen Studien in Phasen ab. Zu Beginn werden Verträglichkeit und Sicherheit überprüft. Dafür melden sich vor allem junge Männer, die bereit sind, dieses Risiko einzugehen. In der nächsten Phase wird die Dosierung geprüft. Auch hier nehmen zu wenig Frauen teil. Und falls doch beide Geschlechter ausreichend vertreten sein sollten, dann werden die Ergebnisse trotzdem noch nicht getrennt ausgewertet. Wir brauchen neue Vorgaben für Studien.

Expertin für Gendermedizin Dr. Hildegard Seidl
Dr. Hildegard Seidl, Fachreferentin für Gendermedizin an der München Klinik Schwabing

Was halten Sie von der EU-Verordnung 536/2014, die seit 2022 vorschreibt, dass die an einer klinischen Prüfung teilnehmenden Prüfungsteilnehmer repräsentativ für die Bevölkerungsgruppen sein sollen?

Dr. Seidl: Die Verordnung stellt eine Verbesserung dar, aber sie reicht auf gar keinen Fall aus. Sie besagt lediglich, dass Männer und Frauen eingeschlossen werden. Aber: Die Ergebnisse werden auf Patientinnen und Patienten übertragen, die nicht Bestandteil der Gruppe waren, zum Beispiel sehr alte Menschen oder Menschen mit mehreren Erkrankungen gleichzeitig. Wir brauchen eine noch individuellere Betrachtungsweise.

Wie kann die Politik die Lage verbessern?

Dr. Seidl: Man könnte in einem Gesetz festschreiben, dass Geschlechterunterschiede bereits im Studiendesign, also bei der Konzeption der Studie, berücksichtigt werden. Bei Medikamentenstudien könnte so frühzeitig festgestellt werden, ob sie bei Frauen und Männern gleich gut wirken, sich Nebenwirkungen unterscheiden oder die Dosis unterschiedlich sein soll. Davon sind wir aktuell noch sehr weit entfernt. Außerdem müssten Ergebnisse von Beobachtungsstudien viel mehr Beachtung bekommen.

Was meinen Sie damit genau? Welche Bedeutung haben Beobachtungsstudien aktuell?

Dr. Seidl: Ein konkretes Beispiel ist eine Krebs-Studie aus Südkorea, deren Ergebnisse im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden. Die Forscher fanden bei der Beobachtungsstudie heraus, dass für Frauen, die am Non-Hodgkin-Lymphom leiden, eine Chemotherapie-Behandlung am Nachmittag verträglicher und effektiver ist als eine Behandlung am Vormittag. Bei Männern hatte der Behandlungszeitraum keine Auswirkungen.  

Welche Schlüsse werden daraus gezogen?

Dr. Seidl: Bisher leider gar keine. Das Problem ist, dass Beobachtungsstudien als statistisch minderwertig gelten und es nicht in die Leitlinien schaffen. Man müsste jetzt eine neue Studie aufsetzen, um die Ergebnisse zu überprüfen und um eventuelle andere Einflussfaktoren auszuschließen. Es müssten per Zufallsprinzip zwei Gruppen erstellt werden. Die eine Gruppe der Frauen müsste vormittags und die andere Gruppe der Frauen nachmittags in die Therapie. So könnten andere systematische Einflüsse ausgeschlossen werden, zum Beispiel ist jemand Frühaufsteher oder hat die Person am Morgen besonders viel Stress, weil die Kinder betreut werden müssen? Diese Faktoren würden sich dann zufällig über beide Gruppen verteilen und das Ergebnis nicht mehr systematisch beeinflussen. Wenn dadurch die Ergebnisse der Beobachtungsstudie bestätigt würden, dann sollten Frauen nur noch die Nachmittagstermine bekommen. Das wäre eine einfache und effektive Maßnahme, um ihre Heilungschancen zu erhöhen.

„Es ist furchtbar, dass Männer eine circa fünf Jahre kürzere Lebenserwartung haben. Studien haben herausgefunden, dass mindestens vier Jahre davon auf ungesunde Verhaltensweisen zurückgehen.“

Dr. Hildegard Seidl

Aber nicht nur bei den Studien gibt es Defizite. Was sollten Ärztinnen und Ärzte tun, damit sich die Versorgung grundsätzlich verbessert?

Dr. Seidl: Ärztinnen und Ärzte sollten sich mit der Gendermedizin beschäftigen und wissen, dass es Unterschiede gibt. Natürlich kann nicht jede Ärztin und jeder Arzt alles wissen. Aber zumindest in ihrem eigenen Fachgebiet sollten sie die geschlechterspezifischen Unterschiede kennen. Das geht nur über Fort- und Weiterbildung sowie eine gute Studienlage. Zudem ist es wichtig, dass sich Ärztinnen und Ärzte mehr mit Kommunikation beschäftigen und diese verbessern.

Wie meinen Sie das?

Seidl: Die Kommunikation in der Medizin muss mehr in den Fokus rücken, das ist sogar wissenschaftlich belegt. Bei Themen wie Schmerzwahrnehmung, Schmerzbeurteilung und Schmerzkommunikation reagieren die Geschlechter unterschiedlich. Frauen brauchen bei einem Arztbesuch länger, um ihr Anliegen zu schildern. Wenn die Zeit nicht eingeräumt wird, können die wichtigsten Informationen für die Ärztin, den Arzt verloren gehen. Somit wird der Ernst der Lage falsch eingeschätzt - und das kann im schlimmsten Fall tödlich enden. Außerdem sind Frauen die kritischeren Patienten, sie wollen mehr Informationen, hinterfragen Diagnosen und Therapien häufiger. Auch das muss adressiert werden, damit sich Frauen ernst genommen fühlen und eine partizipative Entscheidungsfindung möglich wird. Dadurch wird die Therapietreue erhöht und ein „Ärzte-Hopping“ vermieden.

Auch bei den Ärztinnen und Ärzten ist das Kommunikationsverhalten unterschiedlich. Studien zeigen, dass Ärztinnen gegenüber Frauen oft die besseren Therapeuten sind. Bei der Behandlung von Männern wurde dagegen kein Unterschied festgestellt.

Trotz des gestörten Kommunikationsverhältnisses zwischen Frauen und Ärzten hat das weibliche Geschlecht eine höhere Lebenserwartung. Wie passt das zusammen?

Dr. Seidl: Es ist furchtbar, dass Männer eine circa fünf Jahre kürzere Lebenserwartung haben. Studien haben herausgefunden, dass mindestens vier Jahre davon auf ungesunde Verhaltensweisen zurückgehen. Hierzu zählen zum Beispiel Ernährung, Rauchen, Alkohol, verpasste Vorsorgeuntersuchungen oder auch das nicht Behandeln von psychischen Erkrankungen. Deswegen ist es notwendig, dass wir geschlechterspezifische Präventionsangebote entwickeln, um die Männer gut zu versorgen.

Frauen sind auf dem Gebiet ganz klar führend, die Männer fallen hinten runter. Wir brauchen Angebote, die auf Männer zugeschnitten sind, so kann ihre Lebenserwartung angehoben werden. Hier wird klar, dass Gendermedizin für Frauen und Männer da ist und in beide Richtungen wirkt sodass auch Männer davon profitieren.

Bunte Illustration einer Frau, die auf einem OP-Tisch liegt mit Klinikpersonal um sie herum
Ob bei Diagnostik oder Therapien: Noch immer werden Frauen nicht optimal versorgt – mit teilweise gravierenden Folgen. Die Geschlechtersensible Medizin soll Nachteile verringern.
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Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft. Was wäre für Sie der Ideal-Zustand bei der Gendermedizin?

Dr. Seidl: Meine Vision ist, dass Ärztinnen und Ärzte das gesamte Gebiet der Kommunikation, der Rollenbilder, der Rollenerwartungen in ihrem Alltag mitberücksichtigen. Dazu gehört Selbstreflexion, genauso wie die Patientin oder den Patienten zu reflektieren. Unterscheiden sich meine Erwartungen an Patientinnen und an Patienten, welche Erwartungen werden jetzt an mich herangetragen, weil ich zum Beispiel ein Mann bin oder weil ich eine Frau bin? Darüber hinaus müssen die Geschlechterunterschiede verbindlich in die Lehrpläne des Medizinstudiums und der Krankenpflege sowie aller medizinischen Berufe integriert werden. Nur so gelingt es auf lange Sicht, dass das Wissen angewendet wird und eine individuelle Versorgung sichergestellt wird.

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