Artikel Prävention

Gesellschaftliche Teilhabe: „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem“

07.07.2025 Maria Sinjakowa 4 Min. Lesedauer

Gesundheitschancen sind in Deutschland ungleich verteilt – und das nicht zufällig. Wer arm ist, wenig Bildung hat oder eine Migrationsgeschichte mitbringt, ist häufiger krank und lebt kürzer. Wie sich die soziale Benachteiligung abmildern lässt, stand im Fokus einer Online-Veranstaltung der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen.

Wie die Menschen in Deutschland altern, hängt vom sozioökonomischen Stand ab. Diese Ungleichheit hat gravierende gesundheitliche Folgen.

Die Fakten sind längst bekannt: Menschen mit niedrigem Einkommen, geringer Bildung oder Migrationsgeschichte haben häufig eine geringere Lebenserwartung als sozial besser gestellte Gruppen. Und sie verbringen mehr Lebensjahre in schlechter Gesundheit. Ein strukturelles Problem, das sich mit dem Älterwerden zuspitzt. Dennoch hat sich an den Rahmenbedingungen bislang kaum etwas geändert. „Beim Thema ungleiche Gesundheit haben wir kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem“, sagte Prof. Dr. Susanne Kümpers, bei einer Online-Veranstaltung mit dem Titel „Vorsorgen statt versorgen – Gesundheitsförderung in der alternden Gesellschaft“, zu der die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e. V. eingeladen hat.

Niedriger sozioökonomischer Status macht krank – bis zuletzt

Kümpers war Mitglied der neunten Altersberichtskommission der Bundesregierung, die sich mit dem Thema „Alt werden in Deutschland – Potenziale und Teilhabechancen“ befasst hat.  Die Ergebnisse wurden Anfang 2025 im gleichnamigen Bericht veröffentlicht. Er legt offen, wie Teilhabe und Gesundheit vor allem im Alter einander beeinflussen. Ein niedriger sozioökonomischer Status – gemeint sind Einkommen, beruflicher Status und Bildung – bedeutet demnach in vielen Fällen soziale Isolation, Machtlosigkeit, eingeschränkte Mobilität, mangelnde öffentliche Teilhabe und weniger Zugang zu Versorgung. Gesundheitliche Nachteile sind die Folge. Dabei können sich Teilhabe und Gesundheit gegenseitig schwächen. „Ein Mangel an Teilhabe führt zu Krankheit und Behinderung. Und umgekehrt erschweren Krankheit und Behinderung wiederum Teilhabe“, erläuterte Kümpers.

Auch Menschen mit Migrationsgeschichte oder Minderheiten hinsichtlich geschlechtlicher und sexueller Identität sind besonderen Belastungen ausgesetzt: Rassismus, rechtliche Unsicherheiten oder Erfahrungen mit Diskriminierung führen nicht nur zu psychischen Belastungen, sondern auch zu chronischem Stress mit weitreichenden Folgen für die körperliche Gesundheit.

Im Alter verschärft sich die Situation für diese Gruppen. Wer schon in jungen Jahren benachteiligt war, hat oft eine kürzere Lebenserwartung – und verbringt davon mehr Jahre mit chronischen Krankheiten und Pflegebedürftigkeit. „Wir wissen auch, dass ärmere ältere Menschen weniger soziale Kontakte haben und weniger in soziale und politische oder kulturelle Aktivitäten eingebunden sind. Gleichzeitig ist Teilhabe aber relevant für ein Erleben, das eigene Leben und die Umwelt mitgestalten zu können, was wiederum auch zu Gesundheit beiträgt“, meint die Wissenschaftlerin.

Das Wohnquartier entscheidet mit

Mit zunehmendem Alter wird auch das direkte Wohnumfeld wichtiger – besonders für Menschen mit geringer Mobilität und wenig finanziellen Ressourcen. Doch gerade benachteiligte städtische und ländliche Quartiere sind häufig stärker belastet: mehr Lärm, schlechtere Luft, weniger Grünflächen, mangelhafte Infrastruktur und Versorgung. Wer in solchen Stadtteilen oder in solchen ländlichen Wohngebieten lebt, hat laut Kümpers ein höheres Risiko für gesundheitliche Beeinträchtigungen, nicht nur durch die Umweltbedingungen, sondern auch durch soziale Isolation oder Unsicherheitsgefühle. „Wenn Menschen sich im öffentlichen Raum unsicher fühlen, meiden sie ihn und verlieren damit wichtige Möglichkeiten zur Teilhabe.“

Dabei könnten gerade das Quartier und die dortigen Netzwerke Ressourcen bieten. Kümpers verwies auf das Konzept des „konnektiven sozialen Kapitals“. Dabei geht es um Vertrauen der Menschen zueinander, um gegenseitige Unterstützung und gemeinschaftliches Engagement. „Wenn ein Quartier solche Kapazitäten hat, kann es die Benachteiligung zumindest teilweise kompensieren.“

„Ein Hausarztsystem kann soziale Ungleichheiten beim Zugang zur Versorgung abfedern.“

Prof. Dr. Susanne Kümpers

Mitglied der neunten Altersberichtkomission der Bundesregierung

Versorgungssystem verstärkt die Ungleichheit

Die medizinische und pflegerische Versorgung hat großes präventives Potenzial, ist Kümpers überzeugt. Allerdings werde es oft nicht ausgeschöpft. Besonders Menschen mit niedrigem Sozialstatus hätten schlechteren Zugang zur fachärztlichen Versorgung, obwohl sie häufiger krank seien. Das betreffe sowohl Stadt als auch Land. „Ein Hausarztsystem kann soziale Ungleichheiten beim Zugang zur Versorgung abfedern. Bisher gibt es das in Deutschland nur punktuell“, sagte Kümpers. Die neue Bundesregierung plant, ab 2026 ein solches Primärarztsystem einzuführen. Es soll den Zugang zur fachärztlichen Versorgung besser steuern und Wartezeiten verkürzen.

Besonders kritisch sieht Kümpers den Zustand der geriatrischen Versorgung in Deutschland: „Sie ist insgesamt unterentwickelt. Multimorbidität und komplexe Verläufe werden oft nicht erkannt oder nicht angemessen behandelt.“ Hinzu kommen Probleme in der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten, der Mangel an Kooperation und Integration zwischen den verschiedenen Berufen und Einrichtungen in der Versorgung sowie die fehlende Nutzung von Rehabilitationspotenzialen. „Dadurch bleiben die Chancen auf gesundheitliche Stabilisierung ungenutzt – nicht selten mit lebensverändernden Folgen für ohnehin benachteiligte Gruppen“, so die Wissenschaftlerin.

Prävention beginnt im Alltag

Was aber müsste konkret geschehen? Kümpers betont die Bedeutung sozialraumorientierter Gesundheitsförderung. Niedrigschwellige, barrierearme Treffpunkte, wohnortnahe Infrastruktur, grüne Erholungsräume und eine fußgängerfreundliche Umgebung sind zentrale Elemente. Dabei ist Partizipation entscheidend, allerdings kein Selbstläufer. „Partizipative Prozesse reproduzieren häufig Ungleichheit, weil besser gebildete Menschen es leichter haben, sich zu äußern“, sagte Kümpers. Deshalb brauche es gezielte Strategien, um auch benachteiligte Gruppen zu erreichen.

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Vielfalt existiert auch im Alter

Auch können spezifische Angebote für marginalisierte Gruppen die Ungleichheit in der medizinischen und pflegerischen Versorgung reduzieren. Allerdings sind diese noch rar oder greifen zu kurz. Kümpers weist darauf hin, dass pauschale Öffnungserklärungen wie „Wir sind für alle da“ häufig nicht ausreichen: „Wir wissen, dass solche Einrichtungen trotzdem meist nur von bestimmten Gruppen genutzt werden – andere fühlen sich nicht angesprochen oder nicht willkommen.“

Auch queere Menschen im Alter berichten Kümpers zufolge von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Pflegesystem – aus Angst, wieder in Lebensverhältnisse zurückzufallen, aus denen sie sich jahrzehntelang befreit haben. Das erfordert nicht nur Sensibilisierung in bestehenden Institutionen, sondern auch eigene, geschützte Strukturen.

Politischer Wille ist gefragt

Dass viele der nötigen Maßnahmen bekannt sind, aber nicht umgesetzt werden, liegt laut Kümpers auch an politischen Prioritäten. „Wir haben in unserer Gesellschaft ein großes Ungleichheitsproblem – und einen großen Teil der gewählten Parteien, der das nicht für besonders tragisch hält.“ Die Frage nach gerechterer Gesundheit im Alter sei daher vor allem eine Frage des politischen Willens.

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