Steigende HIV-Neuinfektionen erfordern entschiedenes Handeln
Die HIV-Neuinfektionen in Deutschland sind im vergangenen Jahr erstmals seit Jahren wieder angestiegen. Experten warnen vor nachlassender Prävention, zu wenig Testangeboten und wachsender Stigmatisierung. Mehr Aufklärung, niedrigschwellige Tests und eine stärkere Nutzung von Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) könnten den Trend umkehren.
Jahrelang waren die Neuansteckungen mit HIV (Humanes Immundefizienz-Virus) in Deutschland rückläufig. Nun haben sie laut aktuellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) erstmals wieder zugenommen. Demnach steckten sich im vergangenen Jahr 2.300 Menschen neu mit HIV an. Das sind 200 mehr als 2023 und entspricht einem Zuwachs von 9,5 Prozent. Homo- und bisexuelle Männer machten mit 1.300 Fällen etwas mehr als die Hälfte aus, heterosexuelle Übertragungen gab es in 590 Fällen, 400 Übertragungen betrafen intravenös Drogen konsumierende Menschen.
Kürzungen zurücknehmen und Testangebote verstärken
Stefan Esser, Leiter der HIV-Ambulanz und stellvertretender Leiter des Instituts für die Erforschung von HIV und AIDS-assoziierten Erkrankungen an der Universitätsmedizin Essen, forderte im Gespräch mit G+G das Bewusstsein für sexuell übertragbare Krankheiten zu stärken und gesellschaftliche Stigmata abzubauen: „Sex, HIV und Geschlechtskrankheiten dürfen keine Tabuthemen mehr sein.“ Dafür müssten Ärzte mit Patienten mehr über ihr Sexualverhalten sprechen. Als „moderat, aber sehr ernst zu nehmen“ ordnete Sylvia Urban, Vorstand der Deutschen Aidshilfe (DAH) den Anstieg ein. Sie appellierte an die Länder und Kommunen, mehr zu tun, „statt weniger, wie es gerade an vielen Orten geschieht“. An die Politik gerichtet, forderte sie, Kürzungen zurückzunehmen und Testangebote zu verstärken. Esser begrüßte den Vorschlag Nordrhein-Westfalens, künftig im Rahmen des Check-up 35 pauschal HIV-Tests anzubieten.
Im Hinblick auf die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) plädierte er für mehr Aufklärungsarbeit: „Viele Menschen wissen gar nicht um diese Möglichkeit, eine HIV-Infektion zum Beispiel durch ungeschützten sexuellen Kontakt zu vermeiden, indem zuvor eine PrEP eingenommen wird. Oder sie wissen einfach nicht, an wen sie sich für eine solche Prophylaxe wenden können.“ PrEP wird vorbeugend von HIV-negativen Personen eingenommen, um sich bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr vor einer HIV-Infektion zu schützen. Die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer stagniert laut RKI deutschlandweit bei etwa 40.000.
Diagnosen oftmals zu spät gestellt
Nach Angaben des RKI lebten Ende 2024 etwa 97.700 Menschen in Deutschland mit HIV, davon schätzungsweise 8.200, ohne von ihrer Infektion zu wissen. Zugleich wird laut DAH ungefähr ein Drittel der HIV-Diagnosen erst gestellt, wenn das Immunsystem schon schwer geschädigt ist – oft in Zusammenhang mit Aids. „Die weiterhin hohe Zahl später Diagnosen und die wachsende Zahl von Menschen, die noch nichts von ihrer HIV-Infektion wissen, macht uns Sorge“, erklärte Urban. Laut aktuellen Zahlen der Europäischen Gesundheitsbehörde (ECDC) wurden 2024 in der Europäischen Union beziehungsweise im Europäischen Wirtschaftsraum mehr als die Hälfte (54 Prozent) aller Diagnosen zu spät gestellt, um eine optimale Behandlung zu ermöglichen. ECDC sieht das Ziel, Aids bis 2030 als Gesundheitsgefahr zu stoppen, in ernsthafter Gefahr.
Auch Esser warnte vor einer drohenden „Rolle rückwärts“ durch zunehmende Stigmatisierung von Risikogruppen und den Wegfall finanzieller Unterstützung – nicht zuletzt aus den USA. „Jeder gesparte Cent, den wir nicht in Forschung und Prävention stecken, verursacht am Ende unverhältnismäßig hohe Folgekosten in der Behandlung von infizierten Personen.“
Optimierungsbedarf bei der Diagnostik und Therapie von Co-Morbiditäten
Im Hinblick auf HIV-Therapien bekräftigte der Universitätsmediziner, dass sich „aus medizinischer Sicht in den letzten Jahren unglaublich viel getan“ habe. „Darauf können wir aufsetzen, um den Alltag für Betroffene weiter zu verbessern.“ Die antiretrovirale Therapie habe sich enorm verändert – es gebe deutlich weniger Nebenwirkungen und alternativ zur täglichen Tabletteneinnahme die ersten Spritzen, die nur alle zwei Monate verabreicht werden müssten. „Medizinisch bleiben die Heilung und die Impfung die großen Ziele der HIV-Forschung“, betonte er. Antiretroviral behandelte Menschen mit HIV könnten heute so leben wie andere und mit der Infektion alt werden.
Gleichzeitig bedeute moderne HIV-Medizin weit mehr, als nur die nachweisbare Viruslast zu senken: „Im Hinblick auf die Co-Morbiditäten, die sich bei alternden Menschen mit HIV früher und häufiger ergeben, sehen wir einen deutlichen Optimierungsbedarf bei der Diagnostik und Therapie.“ Als Beispiel nannte er die Früherkennung und Behandlung des Analkarzinoms, das bei HIV-positiven Menschen häufiger auftritt. Hier könnten eine angepasste Leitlinie und spezielle, risikoadaptierte Screenings helfen, die Erkrankung frühzeitig zu erkennen und Krebsvorstufen zu behandeln.
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