Krisenstress bremst Kinderwunsch
Trendwende oder nur Intermezzo? Nach einer relativen Hochphase fiel die Geburtenrate 2023 auf den tiefsten Stand seit fast 15 Jahren. Was hinter dem Rückgang steht und wie sich gegensteuern lässt, erläutert Bevölkerungsforscher Martin Bujard.
Deutschland erlebt einen Babyknick. Die Geburtenrate fiel binnen zwei Jahren von 1,57 pro Frau auf 1,36 im Herbst 2023. Das ist nach einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) der niedrigste Stand seit 2009 – und der stärkste Einbruch seit Jahrzehnten. Einen vergleichbar rasanten Rückgang habe man zuletzt in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung und in den 60er und 70er Jahren mit dem sogenannten Pillenknick gesehen, macht Bevölkerungsforscher und Autor der BiB-Studie, Professor Martin Bujard, im Gespräch mit G+G deutlich.
Zeit multipler Krisen lässt bei Kinderwunsch zögern
Als eine Ursache vermutet er den aktuellen Strauß an überlappenden Krisen. 2021 hätten viele Frauen ihren Kinderwunsch offenbar zunächst zurückgestellt, um sich gegen Corona impfen zu lassen. Dann sei gleich eine Serie an Krisen gefolgt. „Der Krieg in der Ukraine, die gestiegene Inflation oder auch der fortschreitende Klimawandel haben die Menschen zusätzlich zur Pandemie verunsichert. In einer solchen Zeit multipler Krisen setzen viele ihren Kinderwunsch nicht um“, so der BiB-Forschungsdirektor. Ähnliches lasse sich fast überall in Europa beobachten. Auch in anderen EU-Staaten seien die Geburtenraten mit den Krisen in 2022 und 2023 gefallen.
Noch um 1850 bekam eine Frau im Schnitt vier bis fünf Kinder. Im sogenannten demografischen Übergang sank diese Zahl auf etwa 2, wobei auch die zuvor hohe Kindersterblichkeit zurückging. In den 50er und 60er Jahren folgte ein Babyboom mit Geburtenraten von 2,5, bevor die Kinderzahl mit dem sogenannten Pillenknick wieder auf Talfahrt ging. Ab den 70er Jahren sank sie in der alten BRD auf Werte um die 1,4 oder tiefer. „Dort blieb sie über 40 Jahre“, so Bujard. Zeitweise war Deutschland Schlusslicht in Europa.
Erst mit den 2010-Jahren gingen die Kinderzahlen wieder hoch. Die Geburtenrate berappelte sich auf 1,5 bis 1,6 Kinder pro Frau. Als einen Grund für den Aufwärtstrend nennt Bujard die familienpolitischen Reformen der vergangenen 20 Jahre. Verbesserungen wie das Elterngeld, mehr Kitaplätze und Ganztagsschulen hätten das Ja zum Kind erleichtert. „Auch die gestiegene Anzahl von Frauen mit Migrationshintergrund in Deutschland spielt eine Rolle, die, sofern sie noch nicht lange in Deutschland leben, im Mittel mehr Kinder bekommen.“
Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern
Der aktuelle Babyknick setzt dieser Hochphase nun – zumindest vorübergehend – ein Ende. Ob der Rückgang ein Intermezzo bleibt oder sich eine neue Phase historisch niedriger Geburtenraten andeutet, können die Forscher noch nicht beantworten. Bujard mahnt, die Entwicklung ernst zu nehmen: „Dauerhaft niedrige Geburtenraten tragen zu einer alternden Gesellschaft bei. Im Zusammenspiel mit zahlreichen anderen Faktoren ergeben sich daraus Herausforderungen unter anderem durch den Rückgang potenzieller Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt und für die Sozialsysteme.“
Viel werde vom weiteren Gang der Krisen und ihrer Wahrnehmung in der Bevölkerung abhängen. Aber auch die Politik sei gefragt. „Ganz entscheidend ist die Familienpolitik“, so der Forscher. Zentral sei der Ausbau eines verlässlichen Kita-Angebotes, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Der Kinderwunsch sei da: Laut der Familienstudie FReDA wünschten sich junge Frauen im Alter von 18 bis 29 Jahren im Schnitt fast zwei Kinder und damit deutlich mehr Nachwuchs, als sich in der Geburtenrate niederschlage. Dafür brauche es die richtigen Rahmenbedingungen. „Wenn Familien feststellen, dass die Rahmenbedingungen gut funktioniert, dann spricht sich das auch rum.“
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