„Achtsamkeit kann Depressionen bei Kindern lindern und sogar verhindern“

Während der Pandemie sind Studien zufolge mehr Kinder und Jugendliche an Depressionen erkrankt. Im Interview erklärt Prof. Dr. Katharina Wick, wie Achtsamkeitsübungen Depressionen lindern und sogar verhindern können und was man sonst noch tun kann.

Kinder gehen aufmerksam und neugierig durch’s Leben – ist das angeborene Achtsamkeit?
Erwachsene können viel von Kindern lernen und wieder so aufmerksam und achtsam sein. Wir haben oft verlernt, im Hier und Jetzt zu sein, ohne an die tausend Dinge zu denken, die wir noch machen müssen. Aber Achtsamkeit ist nur eine Form von Aufmerksamkeit. Bei Achtsamkeit steht das bewusste Erleben und Wahrnehmen des Moments im Vordergrund, ohne wertende Haltung. Auch bei Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS und ADS ist Achtsamkeit ein Werkzeug, um die Aufmerksamkeit gezielt zu steuern.
Wie können Achtsamkeitsübungen im Alltag helfen?
Die aktuelle COPSY-Studie des Uniklinikums Hamburg Eppendorf zeigt, dass sich durch die Pandemie die Lebensqualität bei vielen Kindern und Jugendlichen verschlechtert hat. Die Anzahl von Angststörungen und Depressionen ist stark gestiegen, das Suizidrisiko hat sich sogar vervierfacht! Achtsamkeitsübungen können hier als eine Unterstützungsmöglichkeit genutzt werden und vorbeugend eingesetzt werden. Sie wirken sich positiv auf das Stresslevel, das Verhalten und das allgemeine Wohlbefinden aus. Wichtig: Achtsamkeit ersetzt die ärztliche und psychotherapeutische Behandlung nicht, sie unterstützt sie.
Sollten Achtsamkeitsübungen stärker in Erziehung und Bildung integriert werden?
Ja, unbedingt! Es zeigen sich tolle Effekte, wenn Achtsamkeitsübungen in den Schulen und Kitas durchgeführt werden. Leider geraten die Übungen aber oft nach kurzer Zeit wieder in Vergessenheit. Deshalb sollten alle Lehrenden und Erziehenden in der Durchführung von Achtsamkeitsübungen geschult werden. Achtsamkeit sollte zur Routine und fester Bestandteil im Schul- und Kitaalltag werden. Schon einzelne Übungen können sehr viel bewirken. Und davon profitieren beide Seiten: Nicht nur die Kinder und Jugendlichen, auch die anleitende Person.
Früher sprachen alle von Resilienz. Ist Achtsamkeit die neue Resilienz?
Achtsamkeit ist nicht die neue Resilienz, sondern ein Training dafür. Resilienz wurde ursprünglich als stabiles Persönlichkeitsmuster angesehen, das Kinder und Erwachsene entweder haben oder eben nicht. In einer ersten Längsschnittstudie zu diesem Thema kam heraus, dass ein Drittel der Kinder von Grund auf resilient sind! Mittlerweile wissen wir, dass Resilienz mehrere Faktoren hat und dass diese auch erlernbar und trainierbar sind. Ein Resilienzfaktor ist zum Beispiel Akzeptanz. Achtsamkeitstraining kann helfen, Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind.
Wie kann man Resilienz noch verbessern?
Ein weiterer wichtiger Faktor ist das soziale Netzwerk, welches Unterstützung liefert. Diese Unterstützung sollte genutzt und angenommen werden. Manchmal ist es erforderlich, Hilfe aktiv anzufragen. Wer immer wieder negative Erfahrungen damit macht und keine Unterstützung bekommt, wird zum Einzelkämpfer. Das schwächt die Resilienz. Wir sollten Kinder und Jugendliche demnach darin bestärken, sich dort Hilfe zu suchen, wo eine positive Antwort realistisch ist. Das können Mitschülerinnen und Mitschüler, Vertrauenslehrende, Eltern oder andere Familienangehörige wie die Opa, Tante etc. sein. Wenn Kinder dann ein Erfolgserlebnis haben, bestärkt es sie darin, erneut Unterstützung zu suchen. Das stärkt die Resilienz! Depressionen sind oft mit dem Gefühl verbunden, dass man Dinge nicht kontrollieren kann und hilflos ausgeliefert ist. Wer um Hilfe bittet, fühlt sich weniger hilflos.
Welche Ursachen gibt es für Depressionen bei Kindern und wie kann man vorbeugen?

Sehr viele, sowohl biologische als auch psychosoziale. Kinder depressiver Patientinnen und Patienten haben im Vergleich zur Normalbevölkerung ein erhöhtes Risiko an einer Depression zu erkranken. Deshalb ist Vorbeugen und der Aufbau von Ressourcen umso wichtiger! Als Ressourcen gelten z.B. wieder Achtsamkeit und der Resilienzfaktor Optimismus. In einer Verhaltenstherapie können kognitive Prozesse umstrukturiert werden. Man kann lernen, das Positive am Negativen zu entdecken. Ein Glückstagebuch kann helfen, positive Emotionen zu erzeugen. Wichtig ist auch die sogenannte Selbstwirksamkeit: Man muss daran glauben und die Erfahrung gemacht haben, herausfordernde Situationen zu meistern, das stärkt für die Zukunft. Personen mit hoher Selbstwirksamkeit erwarten eher positive Ergebnisse.
Sind Kinder aller Gesellschaftsschichten gleichermaßen gefährdet?
Nein. Mehrere Studien zeigen leider, dass Kinder aus Familien mit geringerem Einkommen, geringerem Bildungsniveau und geringerer beruflicher Stellung ein höheres Risiko für Krankheiten und Depressionen haben. Ein Problem ist, dass gerade die besonders gefährdeten Familien oft nicht wissen, wo es Hilfsangebote gibt. Und wenn doch, dann scheitern sie häufig an zu hohen Hürden, um sie abzurufen. Sie gehen z.B. seltener in Widerspruch, wenn Anträge abgelehnt werden, beispielsweise für Mutter-Kind-Kuren oder Rehamaßnahmen.
Woran erkennt man Depressionen bei Kindern?
Wichtig ist, dass man die Veränderungen immer mit dem Zeitraum zuvor vergleicht und Bezugspersonen der Kinder und Jugendlichen einbezieht. Viele Symptome könnten als Entwicklungsphasen durchrutschen, weshalb bei der Diagnostik immer auch altersbedingte Besonderheiten berücksichtigt werden sollten. Obacht gilt, wenn mindestens zwei Hauptsymptome für Depressionen länger als zwei Wochen auftreten: Die Kinder oder Jugendlichen können sich nur schwer aufraffen, haben eine gedrückte Stimmung oder keine Freude mehr an Tätigkeiten, die ihnen bisher Spaß gemacht haben. Kommt mindestens ein Nebensymptom wie Schlafstörungen, Suizidgedanken, Appetitlosigkeit, vermindertes Selbstwertgefühl, geringe Aufmerksamkeit und Konzentration oder psychosomatische Störungen wie Kopf- oder Rückenschmerzen dazu, ist die Lage ernst! Dann sollte der Kinderarzt körperliche Ursachen ausschließen und ggf. an Fachärzte weitervermitteln.
Was kann man sonst noch tun, um Depressionen zu verhindern oder zu lindern?
Sport, soziale Aktivitäten, Erlernen von Problemlösekompetenzen, Entspannungstechniken, Rituale mit Kindern, die für Stabilität sorgen, aber auch gesunde Ernährung und gute Schlafhygiene können Depressionen vorbeugen. Soziale Kontakte, zum Beispiel auch in Vereinen und Jugendclubs, bieten Rückhalt, Möglichkeiten zum Austausch und positive gemeinsame Erlebnisse. Wenn sich eine Depression abzeichnet, sollte man das Gespräch suchen und Hilfsangebote machen. Will das Kind nicht darüber sprechen, kann man andere Vertrauenspersonen ins Boot holen, z.B. Großeltern, Schulsozialarbeitende, Vertrauenslehrerende. Wichtig ist, dass das Kind sich jemandem anvertraut und mit den trüben Gedanken nicht allein gelassen wird!
Hier gibt es Achtsamkeitsübungen für Kinder
Im YouTube-Kanal „Henrietta & Co. – Gesundheit spielend lernen“ gibt es unter dem Motto „Gib mal acht – mit Henrietta“ acht Videoanleitungen zum Thema Achtsamkeit für Kinder im Grundschulalter.
Unter plus.aok.de/achtsamkeit-kinder erklärt zudem Kinder-und Jugendpsychater Michael Schulte-Markwort, wie die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse Kindern helfen kann.

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