KI und Krebs: Von kleinen Zellen zu großen Erkenntnissen
Die Krebsforschung deckt ein riesiges Spektrum ab – von mikroskopischen Veränderungen im Erbgut bis hin zur Analyse von Bevölkerungsdaten ganzer Länder. Künstliche Intelligenz (KI) kann dabei helfen, Mechanismen und Muster in diesen Daten zu erkennen und unser Wissen über die Entstehung von Krebs zu vertiefen. Wie KI auf verschiedenen Ebenen die Forschung unterstützt und welchen Beitrag sie zur besseren Früherkennung und Therapie leistet, erklärt Prof. Dr. Moritz Gerstung vom Deutschen Krebsforschungszentrum im Interview.

Herr Professor Gerstung, Sie forschen an den Ursachen von Krebs und lassen sich dabei von KI helfen. Warum?
Prof. Dr. Moritz Gerstung: Krebs wird manchmal auch als der König der Krankheiten bezeichnet, weil Krebs eine sehr vielschichtige Erkrankung ist. Sie fängt mit Mutationen in einzelnen Zellen an, die im Körper über die Zeit wachsen und dann ein Krebsgewebe bilden. Und eben weil es so ein vielschichtiges Problem ist, sieht man häufig auch nicht ganz klar, was eigentlich die ursächlichen Prinzipien sind. Und hier können datengestützte KI-Anwendungen helfen, Licht ins Dunkel zu bringen.

Wobei hilft KI genau?
Gerstung: KI kann dabei helfen, komplexe Prozesse besser zu verstehen, wie zum Beispiel Erbgutveränderungen, die Krebs auslösen. Seit etwa 15 Jahren gibt es Methoden, die die Sequenzierung von Tumor-DNA ermöglichen. Damit lässt sich das gesamte Erbgut eines Tumors analysieren. Die Herausforderung besteht allerdings darin, herauszufinden, welche der vielen tausend beobachteten Veränderungen tatsächlich für die Tumorentstehung verantwortlich sind. Darüber hinaus können wir dank KI die zeitliche Abfolge dieser genetischen Veränderungen rekonstruieren. Zum Beispiel können Algorithmen helfen, zurückzuverfolgen, wann bestimmte Mutationen aufgetreten sind. So lässt sich besser nachvollziehen, wann die verschiedenen Prozesse, die zur Tumorentstehung geführt haben, begonnen haben. Das funktioniert ähnlich wie bei einem Archäologen, der ausgegrabene Fragmente zusammenpuzzelt, um eine Geschichte zu rekonstruieren. KI wird hier also zu einer Art Zeitmaschine, die uns hilft, den Ursprung und die Entwicklung von Krebs besser zu verstehen.
Was bedeutet das für den Kampf gegen Krebs?
Gerstung: Ein besseres Verständnis der Entstehungsgeschichte von Krebs kann helfen, frühe Veränderungen gezielt zu erkennen. Das eröffnet die Möglichkeit, spezifische diagnostische Tests zu entwickeln, da man genauer weiß, wonach man suchen muss. Ein großes Problem bei der heutigen Früherkennung von Krebs ist, dass man oft sprichwörtlich die Nadel im Heuhaufen sucht. Es könnte beispielsweise sein, dass nur wenige Zellen im Körper bereits Veränderungen aufweisen oder sich mikroskopisch vermehren. Aber wie findet man sie? Dafür braucht es extrem sensitive Analyseverfahren.
Gibt es schon solche Verfahren?
Gerstung: Aktuell werden in klinischen Studien blutbasierte Früherkennungstests erprobt, die genau diese Mechanismen nutzen. Damit könnte man nicht nur Tumore erkennen, bei denen man direkten Zugriff auf das Gewebe hat – etwa bei Früherkennung von Brustkrebs, wo Gewebeaufnahmen vorliegen – sondern auch solche Tumore aufspüren, die tief im Körper verborgen liegen und für die es bisher keine effektiven Früherkennungsmethoden gibt.
„KI wird hier also zu einer Art Zeitmaschine, die uns hilft, den Ursprung und die Entwicklung von Krebs besser zu verstehen.“
Datenwissenschaftler und Abteilungsleiter für Künstliche Intelligenz in der Onkologie am DKFZ
Von solchen Tests könnten dann alle Menschen profitieren, unabhängig davon, ob ein Verdacht besteht?
Gerstung: Ja, genau. Ähnlich wie jetzt schon beim Brustkrebs. In Deutschland werden alle Frauen ab 50 Jahren unabhängig von einem konkreten Verdacht alle zwei Jahre zur Vorsorgeuntersuchung eingeladen. Dabei werden Röntgenaufnahmen der Brust gemacht und ausgewertet, um mögliche Veränderungen zu erkennen, die auf Brustkrebs hinweisen könnten. Das ist übrigens auch ein gutes Beispiel für den Einsatz von KI.
Inwiefern?
Gerstung: Es geht um computergestützte Analyse von Röntgenaufnahmen der Brust. Dabei steht man vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen müssen die wenigen veränderten Zellen im Gewebe einer einzelnen Person gefunden werden. Zum anderen ist es auch hier eine Art „Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, da nur ein kleiner Prozentsatz, genauer sechs von 1.000 untersuchten Personen tatsächlich betroffen ist. KI kann in beiden Fällen den Prozess effizienter machen. Dafür gibt es bereits Studien. Sie zeigen, dass KI die Auswertung beschleunigen und die Detektionsrate leicht erhöhen kann. Derzeit werden die Bilder in der Regel von zwei Radiologen ausgewertet. Das gilt als Goldstandard, weil es die höchste Genauigkeit bei der Diagnose bietet. Aktuell wird jedoch geprüft, ob man statt zwei Radiologen eine Kombination aus einem Radiologen und einem computergestützten System einsetzen könnte. Dabei wäre das Ziel, die gleiche oder sogar eine höhere Genauigkeit zu erreichen. Das hätte mehrere Vorteile: Zum einen könnten dadurch die Kosten gesenkt werden, was die Finanzierung solcher Programme erleichtern würde. Zum anderen könnte man die Tests möglicherweise häufiger anbieten und so einem größeren Personenkreis den Zugang ermöglichen.
Auch äußere Faktoren spielen bei der Entstehung von Krebs eine Rolle. Kann KI auch hier helfen?
Gerstung: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ja, auch in diesem Bereich lässt sich KI einsetzen. Allerdings geht man hier etwas anders vor: Statt bei Gewebe, setzt man hier bei der epidemiologischen Forschung an. Dabei untersucht man Daten der Gesamtbevölkerung, um herauszufinden, welche Lebensstile und anderen Faktoren speziell bei Krebspatienten häufiger auftreten. Ziel ist es, Rückschlüsse daraus zu ziehen, welche äußeren Einflüsse die Entstehung von Krebs begünstigen. Die großen Risikofaktoren wie Rauchen, Alkohol, UV-Strahlung, Übergewicht und Bewegungsmangel sind schon lange bekannt. Dennoch gibt es wahrscheinlich viele kleinere, weniger offensichtliche Faktoren, die ebenfalls eine Rolle spielen könnten. Diese lassen sich oft in großen epidemiologischen Datensätzen finden. Und dafür braucht man KI.
„Ein großes Problem bei der heutigen Früherkennung von Krebs ist, dass man oft sprichwörtlich die Nadel im Heuhaufen sucht.“
Datenwissenschaftler und Abteilungsleiter für Künstliche Intelligenz in der Onkologie am DKFZ
Und welchen praktischen Nutzen hat das?
Gerstung: Basierend auf Daten aus der Krankengeschichte und möglicherweise auch auf Verhaltensmustern könnten Gruppen mit einem höheren Risiko genauer bestimmt werden. Das wäre ein Fortschritt für die Früherkennung.
Könnten Sie das erläutern?
Gerstung: Es ist so, dass je häufiger man als gesunder Mensch zur Früherkennung geht, desto größer wird auch das Risiko, dass ein Test einen falschen Alarm auslöst. Dies ist zwar selten, aber für die Betroffenen belastend, führt zu zusätzlichen Untersuchungen und im schlimmsten Fall zur Überbehandlung. Wenn es jedoch gelingt, die Zielgruppen für solche Tests einzugrenzen, könnten die Untersuchungen effizienter werden. Menschen mit einem niedrigen Risiko könnten beispielsweise später im Leben oder seltener zur Früherkennung gehen, während Personen mit einem höheren Risiko früher oder häufiger untersucht werden. Es ist allerdings wichtig, sorgfältig zu überlegen, wie man diese Erkenntnisse in ein transparentes und fair gestaltetes Früherkennungsprogramm überführen kann, das für alle Beteiligten nachvollziehbar und effektiv ist.
Kann KI auch den Fortschritt in der Krebsdiagnostik und -therapie beschleunigen?
Gerstung: Wir wissen dank molekularer Diagnostik, dass kein Tumor dem anderen gleicht, selbst wenn sie im selben Organ auftreten. Das liegt einerseits an der individuellen Entstehungsgeschichte eines Tumors, andererseits daran, dass die Mechanismen, die zur Krebsbildung führen, äußerst vielfältig sind. Für eine erfolgreiche Therapie ist jedoch entscheidend, herauszufinden, welche Tumore aggressiv sind und welche weniger. Denn man möchte nur solche Tumore intensiv behandeln, die das wirklich erfordern. Hier spielt die genaue Analyse eine wichtige Rolle: Gibt es Subtypen, bei denen eine weniger aggressive Behandlung ausreicht? Oder könnte man in manchen Fällen zunächst abwarten, ohne sofort einzugreifen? Solche Erkenntnisse lassen sich häufig durch die computergestützte Analyse von Patientendaten gewinnen, um daraus Rückschlüsse für individuellere Therapieansätze zu ziehen.
Zur Person
Professor Dr. Moritz Gerstung bezeichnet sich selbst als Datenwissenschaftler. Nach seiner Promotion an der ETH Zürich arbeitete er drei Jahre in Cambridge am Wellcome Sanger Institute, einem führenden Zentrum für Genomforschung. Anschließend wechselte er 2015 zum Europäischen Bioinformatik-Institut (EMBL-EBI) wo er eine Forschungsgruppe zur datengestützten Onkologie leitete, bevor er 2021 als Abteilungsleiter für Künstliche Intelligenz in der Onkologie an das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ging.
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