Artikel Prävention

Tierischer Genuss

01.11.2023 Frank Brunner

Schnitzel, Steaks und Bouletten aus Pflanzenextrakten haben Discounter und Delikatessläden erobert. Doch nicht alle Fleischersatzprodukte sind gleichermaßen gesund.

Foto: Auf einem Vollkornbrötchen liegt ein vegetarischer Burgerpaddy und Tomaten sowie Salat. Davor steht ein grünes Herz mit der Aufschrift "Veggie".
Fleischersatzprodukte werden immer beliebter. Doch wie gesund sind sie wirklich?

Früher war nicht alles besser. Veganismus beispielsweise war kein Hipsterthema, sondern eine Diagnose. Menschen, die tierische Produkte mieden, aber dennoch nicht nur Feldsalat futtern oder Karotten knabbern wollten, lebten ziemlich spaßbefreit. Auf der Suche nach Fleischalternativen strandeten sie in Reformhäusern, wo der Duft von Askese durch sparsam bestückte Auslagen waberte. In Regalen warteten getrocknete Sojawürfel, die sich nach dem obligatorischen Einweichen in Gemüsebrühe zunächst in schlabbrige Brocken verwandelten, um nach dem Braten zu einem gummiartigen Gulaschimitat zu mutieren. In Blechdosen gepresste Pasteten, die Leberwurst ersetzen sollten, hätten von Geschmack und Konsistenz eher in den Baumarkt als in einen Lebensmittelladen gepasst. Lange her.

Längst gelten Fleischverächter nicht mehr als blutarme Missionare, die mit erhobenen Zeigefingern durch Naturkostläden schlurfen. Moderne Vegetarier oder Veganer geben sich gesundheitsbewusst. Auf herzhaften Fleischgeschmack muss dabei niemand verzichten. Mittlerweile ist das Angebot an Fleischersatzprodukten beeindruckend: vegane Bolognesen, Bohnen-Bratlinge, Lupinen-Geschnetzeltes, Erbsen-Schnitzel, Seitan-Steaks, Soja-Gyros, Weizen-Pattys, Jackfruit-Gulasch, Tofu-Roster. Selbst die Lebensmittelmesse „Grüne Woche“ in Berlin, jahrelang ein Mekka für Metzger, bleibt nicht verschont vom falschen Fleisch. Dort bewirbt unter anderem Berlins berühmteste Bratwurstbude „Curry 36“ eine vegane Variante ihres Klassikers. In den vergangenen Jahren präsentierten sich auf der „Grünen Woche“ Firmen mit phantasievollen Namen, wie „Evolution meats“, „The Vegetarian Butcher” oder „Incr.edible”. Aus dem Biotop idealistischer Kleinunternehmer ist längst ein Paradies für Großinvestoren geworden.

Gutes Gewissen auf Soja-Basis

„Modern Meat“ aus dem kanadischen Vancouver will künftig weltweit Luxusrestaurants beliefern. In Europa investiert Nahrungsmittelgigant „Nestlé“ Millionen in die hauseigene Marke „Garden Gourmet“ und die deutsche Firma „Rügenwalder“ – früher bekannt durch schwer verdauliche Teewurstwerbung – verkaufte schon 2020 mehr Imitate als Originale. Selbst die Fastfood-Ketten McDonalds und Burger King, sicher nicht die ersten Anlaufstellen für ökobewegte Trendsetter, verkaufen seit einigen Jahren pflanzliche Burger und Nuggets.

Laut Statistischem Bundesamt produzierte die deutsche Lebensmittelindustrie 2022 rund 104.300 Tonnen Fleischersatzprodukte. Im Vergleich zu 2019 eine Steigerung um knapp 73 Prozent. Mehr als 537 Millionen Euro Umsatz erzielten Firmen mit Fleischersatz im vergangenen Jahr. Sicher: Sattmacher aus Schweinen, Kühen und Rindern spülten die 80-fache Summe in die Kassen: 42,4 Milliarden Euro. Aber dass immer mehr Bundesbürger ihre Speisepläne umstellen, ist mehr als ein Bauchgefühl. Davon profitieren auch Öko- und Gesundheitssystem.

Deshalb wundert es nicht, dass der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) neuerdings nicht nur vor Kahlschlag, Krötensterben, Klimakrise warnt, sondern sich auch um unsere Kochtöpfe kümmert. „Wie wir uns ernähren, hat nicht nur direkten Einfluss auf unser Wohlergehen und unsere Gesundheit, sondern auch auf unsere Umwelt“, schreibt der BUND-Vorsitzende Olaf Bandt in einem Gastbeitrag für G+G. Daraus leitet der BUND eine Forderung an die Bundesregierung ab: „Eine Transformation des Ernährungssystems.“ Bandt fordert: „Wir müssen mehr pflanzliche und weniger tierische Produkte essen.“ Eine solche Veränderung wäre positiv für Bauern, Tiere und die Verbraucher, glaubt der BUND-Chef. Aber wie sollte eine solche Ernährungswende funktionieren?

Umweltschützer Bandt hat da eine sehr konkrete Idee: Finanzielle Anreize. Der Landwirtschaftsminister könnte regeln, dass Landwirte auch mit weniger Tierhaltung genug Geld verdienen, beispielswiese durch den Anbau von Obst und Gemüse. Der Gesundheitsminister sollte Vorteile garantieren für eine gesunde Ernährung in öffentlichen Kantinen, Schulen und Krankenhäusern. Und die Umweltministerin möge sich für naturnahe Bewirtschaftung engagieren, etwa indem sie die Nutzung von Mooren und Streuobstwiesen fördere.

Einer der Vorreiter ist schon heute Berlin. Vor allem der Nachwuchs. Im bundesweiten Vergleich verzehren die Kinder der Hauptstadt am wenigsten Fleisch. Der aktuellen AOK-Familienstudie zufolge, nehmen 47 Prozent aller Sprösslinge von der Spree selten oder gar kein Fleisch zu sich. Im bundesweiten Durchschnitt ernähren sich 33 Prozent der Vier- bis Vierzehnjährigen fleischreduziert. Vegetarisch bekocht werden zehn Prozent aller Jungen und Mädchen, vegan ein Prozent. Doch wie gesund sind Fleischersatzprodukte wirklich? Zunächst verbessert Pflanzennahrung indirekt unser Befinden durch positiven Einfluss auf unsere Lebensräume. So stammen rund 15 Prozent der weltweit durch den Menschen verursachten Treibhausgase aus der Fleischherstellung. Gleichzeitig sickern Unmengen Gülle ins Grundwasser, verschwinden Millionen Hektar Regenwald, um Soja anzubauen, das größtenteils als Tierfutter in Trögen landet. Weniger Fleisch heißt mehr Wald, sauberes Wasser und geringerer Wasserverbrauch.

Wurst mit Widersprüchen

Auch unmittelbar profitiert unsere Lebensqualität. So sinkt die Wahrscheinlichkeit von Resistenzen gegen Antibiotika, die in der konventionellen Tierhaltung eingesetzt werden. Weniger Konsum von verarbeitetem Fleisch bedeutet einer Studie der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) zufolge zudem ein geringeres Darmkrebsrisiko. Ein anderer Aspekt: Reduzieren Menschen die Aufnahme von Arachidonsäure – in tierischen Lebensmitteln konzentriert enthalten – verringert das die Arthrosegefahr. Doch wie alles im Leben haben auch Pflanzenbratlinge zwei Seiten und die versprechen nicht grundsätzlich gesunden Genuss. Grund dafür: der Genuss.

Um von Fleisch möglichst nahe zu kommen, müssen Hersteller großen Aufwand betreiben. Unzählige körpereigene Rezeptoren beurteilen Form, Geschmack, Geruch und Textur. Allein die Röstaromen, die beim Grillen entstehen, wenn Zucker und Eiweiß unter Hitze fusionieren, wecken bei Fleischfreunden Lust auf Deftiges. „Umami“, heißt dieses Leitaroma – japanisch für „herzhaft-intensiv“ oder „köstlich-würzig“ und neben süß, sauer, salzig und bitter eine von fünf Geschmacksrichtungen. Menschen schmecken „Umami“, wenn sie Proteine essen, in denen viel Glutaminsäure oder deren Salz, das Glutamat, enthalten sind. Das ist vor allem in Fleisch und Wurst der Fall, aber auch in einigen Pilzen. Damit Pflanzenkost als „Umami“ wahrgenommen wird, enthalten viele Rezepturen jede Menge, Fett, Farbstoffe, Verdickungsmittel, Salz, Säureregulatoren, Stabilisatoren, Zucker und andere Zusatzstoffe, etwa Raucharoma. Die Verbraucherzentrale Berlin untersuchte 2022 mehr als 40 Fleischersatzprodukte und stieß auf insgesamt 16 Zusatzstoffe. Mit vitaminreichem Gemüse haben solch hochverarbeite Produkte nur wenig zu tun. 

Appetitzügelnd dürfte auch eine Mitte Oktober 2023 veröffentlichte Untersuchung der Zeitschrift „Ökotest“ wirken. Lebensmittechemiker analysierten in einem Labor 16 Veganburger. Ergebnis: Acht davon waren mit Mineralölbestandteilen verunreinigt. Darunter die potenziell krebserregenden aromatischen Mineralölkohlenwasserstoffe (MOAH) und gesättigte Mineralölkohlenwasserstoffe (MOSH), die sich in Leber und Fettgewebe anreichern. Ernährungswissenschaftler raten dazu, dass Fleischalternativen maximal zwei Mal pro Woche auf dem Teller landen.

An einem Mittwochnachmittag am Kreuzberger Mehringdamm. Vor dem Stammsitz von „Curry 36“ warten gut drei Dutzend Berliner und Touristen. Wer es bis vor den Tresen geschafft hat, musste jahrzehntelang nur eine Frage beantworten: Mir Darm oder ohne Darm? Seit einiger Zeit existiert eine dritte Variante: Die vegane Wurst. Nicht gegrillt, sondern frittiert. Das entspricht zwar nicht der reinen Lehre im Bratwurst-Business, verleiht dem Endprodukt aber eine erstaunlich knackige Konsistenz und ein bissfestes Innenleben. Allerdings versenkt der Imbisskoch die krosse Kruste am Ende in einem Meer aus Currysoße – ein Schicksal, dass die Vegiwurst mit ihrem tierischen Pendant teilt.

 

Foto: Eine Früstücksbox mit Obst, Gemüse und Vollkornbrot steht geöffnet auf einem Tisch, daneben liegen ein Apfel und eine Flasche Orangensaft.
Jedes Kind soll eine Chance haben, sich gesund zu ernähren, sagt Cem Özdemir. Der Ernährungsminister will deshalb die Verpflegung in Kitas und Schulen verbessern.
23.10.2023Cem Özdemir4 Min
Foto: Neben einem Apfel, auf dem ein Herz-/Kreislaufdiagramm angedeutet ist, liegt ein Stethoskop.
Die Vermittlung von Gesundheitskompetenz ist nach Ansicht von Sven Nobereit, alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrats der AOK PLUS, eine wichtige Aufgabe der AOK.
12.10.2023Thorsten Severin4 Min

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