Ein Tropfen Blut und viele Fragen
Ein Gentest bei Neugeborenen kann Leben retten – aber auch Eltern vor kaum lösbare Konflikte stellen. Denn nicht jede Erkenntnis verspricht Heilung. Über das Dilemma moderner Diagnostik.
Ist mein Baby gesund? Diese Frage stellen sich wohl alle Eltern. Tatsächlich erhalten sie schon recht bald eine Antwort. Standardmäßig nehmen Mediziner Neugeborenen in Deutschland wenige Tage nach der Geburt einen Tropfen Blut ab und testen ihn auf chemische und biologische Marker verschiedener Krankheiten.
Das Neugeborenenscreening (NBS), auch als „U2-Untersuchung“ bekannt, startete 1969 in Deutschland, zuerst zur Früherkennung von Phenylketonurie, einer angeborenen Stoffwechselstörung. Das Programm gilt als medizinische Erfolgsgeschichte: 99 Prozent der Kinder, die heute in Deutschland das Licht der Welt erblicken, durchlaufen das Screening. Seit seiner Einführung waren es insgesamt 34 Millionen. Heute testen Labore auf insgesamt 19 verschiedene Krankheiten. Diese lassen sich nicht nur diagnostizieren, sondern auch erfolgreich behandeln, sodass viele einst schwerwiegende Leiden heute kaum mehr eine Rolle spielen.
Der Bluttropfen, der den Neugeborenen dafür abgenommen wird, enthält jedoch deutlich mehr Informationen. Denn das darin enthaltene Genom können Bioinformatiker mit Hilfe spezieller Apparate entschlüsseln – und so Rückschlüsse ziehen auf etwa 8.000 seltene Gendefekte. Bereits zwei bis fünf Tage nach der Geburt könnten Spezialisten sie beim Kleinkind diagnostizieren. Das genomische Neugeborenenscreening (gNBS) führen Länder wie die USA, Großbritannien oder China bereits flächendeckend durch. Auch in Deutschland könnte es zum Standard werden.
Allerdings gibt es ein Problem: „Es handelt sich um seltene Generkrankungen, gegen die in vielen Fällen keine wirksame Behandlung existiert“, sagt Christian Schaaf, ärztlicher Direktor am Institut für Humangenetik des Uniklinikums Heidelberg. Zudem liefern Gendiagnosen oft keine eindeutigen Ergebnisse. Stattdessen zeigen sie häufig nur ein erhöhtes Risiko für eine bestimmte Erkrankung an. Die technischen Möglichkeiten voll auszuschöpfen könnte bedeuten: Frisch gebackene Eltern erhalten kurz nach der Geburt ihres Kindes eine fatale Diagnose, ohne zu wissen, ob, wann und wie schwer eine Krankheit ausbricht – gegen die sie im Fall der Fälle oft ohnehin nichts ausrichten könnten.
Wie viel Wissen ist zu viel?
Schaaf ist Mitglied von „New Lifes“ einer Expertengruppe aus Medizinern, Rechtswissenschaftlern und Psychologen. Sie haben kürzlich einen Kriterienkatalog formuliert, um den ethischen Rahmen für ein gNBS-Programm in Deutschland abzustecken. Der Katalog legt fest, unter welchen Umständen eine Erkrankung diagnostiziert werden darf – und wann sich das verbietet.
Ausschlaggebend dafür ist vor allem, ob eine wirksame Behandlung existiert. Trisomie 21 etwa, das Down-Syndrom, soll nicht per Gentest identifiziert werden. Zwar können Eltern mit einer frühen Diagnose Vorbereitungen treffen, beispielsweise sich über spezielle Bildungs- oder Betreuungsangebote informieren. „Aber es existiert keine Behandlung im medizinischen Sinne“, sagt Christian Schaaf. Zudem liefern andere Diagnostikansätze oft mehr Informationen über tatsächlich vorliegende Einschränkungen und somit über die Notwendigkeit eines gesonderten Förderbedarfs.
Außerdem muss die Penetranz, also die Wahrscheinlichkeit, dass die Krankheit ausbricht, bei mehr als 80 Prozent liegen. Die Krankheit muss schwerwiegend sein und bereits im Kindesalter ausbrechen. So ermöglicht ein Gentest zwar, ein erhöhtes Risiko für Brust- und Eierstockkrebs festzustellen, aber da diese Krankheiten erst im Erwachsenenalter ausbrechen, plädieren Experten für ihren Ausschluss vom Screening. „Hier wäre zudem das Recht auf Nichtwissen verletzt“, sagt Ralf Müller-Terpitz, Rechtswissenschaftler aus Mannheim und ebenfalls Mitglied der New-Lifes-Gruppe Ein Kleinkind kann nicht entscheiden, ob es um ein erhöhtes Brustkrebsrisiko wissen will. Eine Jugendliche oder junge Erwachsene dagegen kann diese Entscheidung eigenverantwortlich treffen. Und erst dann folgt aus diesem Wissen auch medizinischer Handlungsbedarf.
Katalog mit 200 Krankheiten
Der Kriterienkatalog beschränkt die Anzahl der zum Screening zugelassenen Krankheiten deutlich. Von den 8.000 Erkrankungen, die per Gentest festgestellt werden könnten, bleiben so nur 200 übrig, auf die das Screening tatsächlich testen soll.
Eine von ihnen ist Morbus Pompe, eine seltene Stoffwechselerkrankung, die zu einer Herzmuskelschwäche und innerhalb weniger Monate bis Jahre zum Tod führt. „Diese Krankheit kann mit einer Enzymtherapie gut behandelt werden“, sagt Schaaf. Auch das erbliche Retinoblastom, ein Tumor im Auge, der innerhalb der ersten Lebensjahre entsteht, und zum Verlust des Auges oder sogar zum Tod führen kann, soll durch den Gentest erkannt werden. „Hier kann man durch regelmäßige Augenuntersuchungen und gegebenenfalls durch eine Kryotherapie gut intervenieren“, sagt Schaaf.
In den kommenden Jahren startet das gNBS in Deutschland in die Pilotphase. Zunächst führen es ausgewählte Kliniken an wenigen Standorten ein – im Gespräch sind Heidelberg, Berlin und Freiburg. Dabei steht nicht primär die medizinische Datenerhebung im Vordergrund. Denn dass Genomdaten entschlüsselt und mit hoher Präzision untersucht werden können, gilt als unumstritten.
„Es handelt sich um extrem sensible medizinische Daten, die geschützt werden müssen.“
Professor für Öffentliches Recht, Uni Mannheim
Kein Test ohne Eltern
Vielmehr stehen praktische Fragen im Vordergrund: Wie wird das Programm von Eltern angenommen? Wie etablieren Verantwortliche eine Infrastruktur, die einen schnellen „Turnaround“, also eine kurze Zeit zwischen Test und Rückmeldung des Ergebnisses ermöglicht? Wie klären Mediziner Eltern über das Verfahren auf?
Beim Wort „Gentest“ läuten bei vielen Menschen die Alarmglocken, sagt Christian Schaaf: „Es ist darum unglaublich wichtig, dass wir den Aufklärungs- und Einwilligungsprozess so gestalten, dass er für die Familien greifbar und verständlich ist.“ Denn wie beim aktuellen Screening läuft ohne die Einwilligung der Eltern nichts. Um diese Zustimmung geben zu können, müssen Eltern das Verfahren, seine Vor- und Nachteile genau verstehen. „Dem Gendiagnostikgesetz zufolge braucht es ein eigenes Beratungsangebot“, sagt Müller-Terpitz. „Bei etwa 100.000 Neugeborenen pro Jahr würde das allerdings zu viele Ressourcen in Anspruch nehmen.“ Auch hierfür sollen in der Pilotphase Lösungen getestet werden, etwa über Infobroschüren oder spezielle Sprechstunden.
Zuletzt stellen sich Fragen des Datenschutzes. Denn wenn das klassische Neugeborenenscreening in der Breite um die Genomsequenzierung erweitert werden soll, hieße das auch: Das vollständige Genom nahezu aller Neugeborenen würde auf Servern gespeichert. „Es handelt sich hier um extrem sensible medizinische Daten, die natürlich entsprechend geschützt werden müssen“, sagt Ralf Müller-Terpitz.
Sie dürften nur zweckgebunden zugänglich sein. Einzige Ausnahme: Auch die Forschung könnte Zugang erhalten, um mit Hilfe der Gendaten weitere Risikogene zu identifizieren. Müller-Terpitz: „Es wäre auch vorstellbar, dass diese Daten – anonymisiert und unter hohen Sicherheitsstandards – der Forschung zugänglich gemacht werden, wenn es daran ein berechtigtes Interesse gibt.“
Wissen wird günstiger
Das Genom eines Menschen zu sequenzieren, kostet aktuell rund 1.000 Euro. Der gängige Screening-Test für Neugeborene liegt bei 45 Euro. Wie ist der gesundheitsökonomische Nutzen zu bewerten? „Nach heutigem Stand wäre das Screening wahrscheinlich zu teuer, um es populationsweit zu etablieren“, sagt Schaaf.
Allerdings sinken die Kosten in diesem Bereich rasant. Die erste Genomsequenzierung Anfang der 2000er-Jahre kostete mehrere Millionen US-Dollar. Heute dauert die Sequenzierung wenige Tage und kostet einen Bruchteil dieser Summe. Wie hoch die Kosten sein werden, wenn das Programm in etwa zehn Jahren flächendeckend eingesetzt wird, lässt sich heute nicht vorhersagen. Voraussichtlich werden sie deutlich niedriger sein.
Genetische Erkrankungen lassen sich zwar häufig nicht heilen, oft aber behandeln. Das rettet Leben und verhindert schwere Krankheitsverläufe – wodurch wiederum das Gesundheitssystem entlastet würde. Wie hoch die Langzeitkosten sind, die so eingespart werden könnten – auch das soll in den nächsten Jahren herausgefunden werden. Modellrechnungen dazu gibt es wegen der vielen offenen Variablen bislang nicht.
So oder so: Der medizinische Nutzen des gNBS liegt auf der Hand. Denn die 200 Krankheiten, die damit identifiziert werden sollen, führen oft zum Tod oder schränken das Leben der Betroffenen massiv ein. Wie schon beim klassischen Screening ohne Gentest ermöglichen die frühzeitige Diagnose und Behandlung vielen Familien, schwere Schicksale zu vermeiden.
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