„Der beste Schutz ist eine adäquate Therapie“
Gewalterfahrung kann Männer zu Tätern machen, sagt Anne Maria Möller-Leimkühler. Die Sozialwissenschaftlerin fordert den Ausbau von Beratung und Hilfe.
In Medienberichten über spektakuläre Gewalttaten wird oft darauf hingewiesen, dass der Täter psychisch krank sei. Sind psychisch kranke Männer per se gewalttätig?
Anne Maria Möller-Leimkühler: Das ist ein verbreitetes gesellschaftliches Stereotyp. Die empirischen Fakten zeigen ein anderes Bild: Zahlreiche internationale Studien belegen, dass 95 Prozent der psychisch kranken Männer nicht gewalttätig sind. In der Allgemeinbevölkerung sind dies etwa 98 Prozent. Wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie angibt, werden aktuell etwa 10.000 psychisch kranke Straftäter mit Aggressionsdelikten in forensisch-psychiatrischen Kliniken behandelt. Verglichen mit den rund 17,8 Millionen Menschen, die jedes Jahr von einer psychischen Erkrankung betroffen sind, sind dies nur 0,06 Prozent.
Welche Bedeutung für Gewaltverhalten von psychisch Kranken hat die persönliche Biografie?
Möller-Leimkühler: Der stärkste Risikofaktor sind psychische Traumatisierungen in der Kindheit durch körperliche und emotionale Vernachlässigung, Missbrauch oder Gewalterfahrungen. Betroffene Kinder zeigen im Erwachsenenalter neben ihrer psychischen Erkrankung häufiger Gewaltverhalten als andere, Jungen sind fünf- bis sechsmal häufiger betroffen als Mädchen. Psychisch Kranke sind aber nicht gewalttätiger als Gesunde.
Sind psychisch Kranke nicht auch oft Opfer von Gewalttaten?
Möller-Leimkühler: Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung haben psychisch Kranke ein mehrfach so hohes Risiko, Opfer von Aggression und Gewalt zu werden, zum Beispiel bei sexuellen Belästigungen, körperlichen Übergriffen, Gewaltandrohungen bis hin zur tödlichen Gewalt. Die Folgen reichen von der Verschlimmerung der bereits bestehenden psychischen Erkrankung über soziale Isolation und sozialen Abstieg bis hin zur Suizidalität.
„Das Gesundheitssystem hat eine Schlüsselfunktion beim Erkennen von Gewaltfolgen.“
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München
Was muss sich im Gesundheitssystem ändern, um psychisch kranken Männern, die Gewalt ausgeübt oder erlitten haben, angemessene Hilfe zukommen zu lassen?
Möller-Leimkühler: Da die meisten Gewalttaten psychisch kranker Männer mit einer unzureichenden Behandlung der zugrunde liegenden Störung in Zusammenhang stehen, ist der beste Schutz nachgewiesenermaßen eine adäquate und regelmäßige medikamentöse wie psychotherapeutische Behandlung. Das Gesundheitssystem hat eine Schlüsselfunktion beim Erkennen von Gewaltfolgen und der Weitervermittlung zu spezialisierten Unterstützungseinrichtungen. Diese Leistungen sind allerdings für gewaltbetroffene Männer äußerst dürftig. Hilfe- und Beratungsangebote müssten möglichst flächendeckend ausgebaut werden.
Warum schweigen Männer so häufig über erlittene Gewalt?
Möller-Leimkühler: Männer lernen von klein auf, stark und tapfer zu sein, etwas einstecken und aushalten zu können und ihre Gefühle zu unterdrücken. Deshalb haben sie grundsätzlich – aufgrund eingeübter emotionaler Kontrolle – wenig Zugang zu ihren Gefühlen. Männer meinen außerdem, ihre Probleme allein lösen zu müssen, besonders dann, wenn sie mit starken Schamgefühlen verbunden sind. Mannsein und Opferrolle schließen sich in diesem Männlichkeitsmuster aus, Aggression und Gewalt sind im traditionellen Leitbild von Männlichkeit wichtige Komponenten. Männer werden als Täter wahrgenommen, aber nicht als Opfer. Deshalb nehmen sie selbst oft auch erlittene Gewalt nicht als solche war, sondern normalisieren und bagatellisieren.
Welche sozialen Milieus begünstigen Gewaltverhalten?
Möller-Leimkühler: Das sind insbesondere untere Sozialschichten, Armut, chronische Arbeitslosigkeit, kriminelle Milieus mit Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Peers mit Gewalt legitimierenden Männlichkeitsvorstellungen und abweichendem Verhalten, Jugendgangs in Großstädten. Die Mehrzahl der Männer weist einen Täter-Opfer-Overlap auf, auch bei Partnerschaftsgewalt: Opfer von Gewalt können häufiger zu Tätern werden als Nicht-Opfer.
Zur Person
Prof. Dr. Anne Maria Möller-Leimkühler ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie ist Mitherausgeberin des Sechsten Deutschen Männergesundheitsbericht der Stiftung Männergesundheit, erschienen im November 2025.
Trauma, Stress und Angst werden oft als Folgen von Gewalt beschrieben. Was bedeutet das für die biologischen Regulationssysteme?
Möller-Leimkühler: Neurobiologisch sehr gut belegt ist eine Fehlregulation der Stresshormonachse mit hohen Cortisol-Ausschüttungen, die sich auch auf verschiedene andere neurobiologische Systeme auswirken. In sensiblen Phasen der kindlichen Gehirnentwicklung können hohe Cortisol-Konzentrationen verschiedene Hirnregionen negativ in ihrem Volumen und ihrer Funktion beeinflussen. Dadurch verstärkt sich beispielsweise das Ansprechen auf Bedrohungsreize, während das Ansprechen auf Belohnungsreize abnimmt, was zu Depressionen und Angststörungen führen kann. Neurobiologisch ist ebenfalls denkbar, dass Gewalterfahrungen an die nächste Generation weitergegeben werden können, und zwar über epigenetische Modulationen. Auch Lernprozesse während der Sozialisation spielen dabei eine Rolle, wenn Eltern eigene traumatische Erfahrungen nicht verarbeitet haben und ihr Fühlen, Denken und Handeln unbewusst auf die Kinder übertragen.
Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verarbeitung der Gewalterfahrungen?
Möller-Leimkühler: Auch diese Frage ist wissenschaftlich noch kaum untersucht. Greift man auf Erkenntnisse der Stressforschung zurück, neigen Frauen zu internalisierenden Strategien, aber auch eher zu kommunikativen Strategien wie Hilfe zu suchen und über das Problem zu sprechen. Männer dagegen reagieren typischerweise mit externalisierenden Strategien wie Aggressivität, Angriff, gesteigertem Risikoverhalten und Flucht in Alkohol und Drogen, Rückzug, Bagatellisierung und Verdrängung.
Wieso gibt es kaum Forschung zu männlichen Gewalterfahrungen?
Möller-Leimkühler: Es gibt nicht nur zu wenig Forschung, sondern auch zu wenig Opferschutz für Männer. Geschlechtsspezifische Gewaltforschung fokussiert auf Frauen, weil Frauen tatsächlich häufiger Opfer von männlicher, meist sexueller, Gewalt werden. Hier hat die Frauenbewegung viel erreicht und die Politik überzeugt. Dieser Fokus hat aber den Blick darauf verstellt, dass Männer auch Opfer von Gewalt werden können, meistens ebenfalls durch männliche, aber auch durch weibliche Gewalt. Dahinter stehen die bekannten Geschlechterstereotype, die beeinflussen, für welche gesellschaftlich erwünschten Ziele Ressourcen zur Verfügung gestellt werden und für welche nicht.
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