Interview Prävention

„Gewaltschutz muss für alle gelten“

22.01.2024 Tina Stähler 7 Min. Lesedauer

Viele behinderte Menschen leben in strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen. Sie sind damit einem erhöhten Gewaltrisiko ausgesetzt. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung will ihren Zugang zu Prävention und Beratung verbessern.

Foto: Porträt von Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Jürgen Dusel: „Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, ein ressortübergreifendes Gewaltschutzkonzept zu entwickeln."

Herr Dusel, ist es überhaupt noch zeitgemäß, von behinderten Menschen zu sprechen?

Jürgen Dusel:
Zunächst ist es wichtig, dass wir überhaupt über diese Personengruppe reden. Wir haben in Deutschland immer noch viel zu wenige Begegnungen mit diesen Menschen. Wir sollten den akademischen Diskurs nicht zu weit treiben. Ob Menschen mit Behinderungen, Einschränkungen, besonderen Herausforderungen oder behinderte Menschen – entscheidend ist, dass unsere Worte wertschätzend sind.

Ich persönlich habe eine Behinderung, ich bin blind. Und mir selbst ist es nicht so wichtig, ob ich als Mensch mit Behinderung oder als behinderter Mensch betitelt werde. Ich bin Jürgen Dusel und die Behinderung ist ein Teil von mir, aber sie macht mich nicht komplett aus. Ich bin Vater, Ehemann und habe Hobbys. In Deutschland haben 13,5 Millionen Menschen eine Beeinträchtigung und die haben Familie, Freunde, Kinder. Wir reden also über einen großen Personenkreis, der entweder unmittelbar oder eben mittelbar vom Thema Behinderung betroffen ist.

Behinderte Menschen erfahren deutlich häufiger Gewalt als nichtbehinderte Menschen. Warum?

Dusel: Viele behinderte Menschen leben in strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen. Das kann eine Wohneinrichtung sein, eine Werkstatt für behinderte Menschen, aber auch der ambulante Pflegedienst. In Deutschland leben rund 200.000 erwachsene Menschen in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe und circa 300.000 arbeiten in Werkstätten. Solche Abhängigkeitsverhältnisse bergen immer das Risiko, Gewalt zu befördern. Bewohnerinnen und Bewohner und deren Betreuer beziehungsweise Pflegende leben zum Teil eng zusammen. Da können Grenzen fließend sein und werden leider zum Teil auch überschritten. Denn Pflege in Einrichtungen umfasst auch körpernahe Dienstleistungen wie Intimpflege. Deswegen ist es auch so wichtig, dass der Staat beispielsweise über die Heimaufsichten ordnungsrechtlich Einsicht in die Einrichtungen erhält und sie kontrolliert. Sie können Qualität in die Einrichtungen aber nicht bloß hineinverordnen, sondern es braucht eine sozialräumliche Öffnung von Einrichtungen.

Wie sieht das konkret aus?

Dusel: Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen beispielsweise zu Präventionsmaßnahmen im Sozialraum oder zu Beratungsstellen wie Pro Familia im Kiez Zugang haben müssen. Und das setzt wiederum voraus, dass dort Expertise über die Situation von Menschen mit Behinderungen vorhanden ist. Außerdem müssen Zugänge barrierefrei sein – auch in sprachlicher Hinsicht. Ein Beispiel: Wenn jemand auf leichte Sprache angewiesen ist und sich beraten lassen will, dann ist entscheidend, dass die damit verbundenen Strukturen vorhanden sind. Sonst stehen diese Menschen ganz schnell vor unüberwindbaren Hürden. Es geht hier nicht um Almosen, die wir gewähren müssen. Solche Dinge müssen ganz klar mitgedacht werden. Denn Menschen mit Behinderungen sind Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und sie haben die gleichen Rechte wie wir alle.

Foto: Porträt von Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Jürgen Dusel setzt sich für barrierefreien und bezahlbaren Wohnraum für behinderte Menschen ein.

Welchen Formen von Gewalt können Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sein?

Dusel: 
Sie können körperlichen oder psychischen Formen von Gewalt ausgesetzt sein, aber auch sexualisierter Gewalt. Gerade Frauen und Mädchen mit Behinderungen sind hier deutlich gefährdeter. Wichtig ist auch, im Hinterkopf zu behalten, dass Gewalt nicht nur von Pflegenden und anderen Mitarbeitenden ausgehen kann, sondern auch von Menschen mit Behinderungen, die sich untereinander Gewalt zufügen. Und auch mit Personen aus dem Kreis der externen Kooperationspartner von Werkstätten, beispielsweise den Fahrdiensten, kann es Probleme im Hinblick auf Gewalt geben.

Können Sie Zahlen nennen, wie viele Menschen von Gewalt betroffen sind?

Dusel:
Wir haben keine konkreten Zahlen und das ist ein Problem. Es gibt einzelne Studien mit Teilaspekten, wie die der Universität Bielefeld im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Solche Studien sind hilfreich, aber sie führen nicht dazu, dass Gewalt automatisch weniger wird. Deswegen brauchen wir konkrete Maßnahmen und zwar jetzt. Ich gehe persönlich davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden, bei Mädchen und Frauen mit Behinderung etwa zwei bis dreimal so hoch ist wie bei Frauen ohne Behinderung. Aber das ist ein Näherungswert, und die Dunkelziffer ist aus meiner Sicht relativ hoch.

Was tut die Politik gegen Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe und was muss noch besser werden?

Dusel:
Wir beklagen seit vielen Jahren, dass die Gewalt an Menschen mit Beeinträchtigungen nicht nur in Einrichtungen, aber eben gerade dort, sehr hoch ist. Es reicht nicht, das immer wieder festzustellen – es müssen Maßnahmen folgen. Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, eine ressortübergreifende Gewaltschutzstrategie zu entwickeln.

Relativ frisch haben wir seit 2021 den Paragrafen 37a im Neunten Sozialgesetzbuch, der besagt, dass Leistungserbringer geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen, insbesondere für Frauen und Kinder mit Behinderung und von Behinderung bedrohte Frauen und Kinder, treffen müssen. Das Bundesarbeits- und Sozialministerium hat angekündigt, diesen Paragrafen noch einmal zu konkretisieren. Es ist Aufgabe des Staates, nicht nur ein Recht festzulegen, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Rechte bei den Menschen ankommen und sie vor Gewalt geschützt werden. Das gilt für Menschen mit oder ohne Behinderung.

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Was wünschen Sie sich für die Zukunft im Hinblick auf Gewaltschutz?

Dusel:
Gerade in Werkstätten für behinderte Menschen gibt es Frauenbeauftragte, die einen wichtigen Job machen. Es ist viel authentischer, von jemandem aus der Peer-Group beraten zu werden. Ich wünschte mir, dass die Frauenbeauftragten in den Werkstätten, die es in manchen Bundesländern gibt, von den Leitungen noch mehr akzeptiert, unterstützt und ernst genommen werden. Das ist teilweise schon gut, aber nicht flächendeckend. Wir benötigen neben den Bewohnerbeiräten klare Strukturen in den Einrichtungen, um zu sehen, was dort tatsächlich passiert. Das ist auch das, was Artikel 16 der UN-Behindertenrechtskonvention vorgibt. Dieser besagt, dass es unabhängige Behörden zur Überwachung der Einrichtungen und niedrigschwellige Beschwerdesysteme braucht. Da sind wir noch nicht gut genug.

Hier ist meine Erwartung an weitere Reformen, dass Wohneinrichtungen in der Zukunft mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet werden. Ich setze mich dafür ein, dass es mehr barrierefreien und bezahlbaren Wohnraum gibt, in den Menschen einziehen können, die aus Einrichtungen ausziehen wollen. Das ist auch ein Beitrag zum Gewaltschutz. Wir müssen klügere und bessere Alternativen zu Wohneinrichtungen und Werkstätten finden.

Zur Person

Jürgen Dusel ist Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Der Jurist arbeitete bei der Hauptfürsorgestelle Mecklenburg-Vorpommerns sowie in Brandenburg in der Heimaufsicht, im Integrationsamt und als Behindertenbeauftragter der Landesregierung.

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