Artikel Finanzierung

System in Schieflage

17.12.2025 Salka Enners, Michael Thiede 4 Min. Lesedauer

Medizinischer Fortschritt hat seinen Preis – doch der bringt das Gesundheitssystem aus dem Gleichgewicht. Die Kostentreiber sind hochpreisige, patentgeschützte Medikamente. Der Arzneimittel-Kompass 2025 zeigt Wege zu fairen Preisen auf.

Foto: Verschiedenartige Pillen liegen auf einem dunklen Untergrund
Ein Arzneimittelpreis ist fair, wenn er transparent, gerechtfertigt und mit dem Patientenwohl vereinbar ist.

Rund 59 Milliarden Euro hat die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 2024 für Arzneimittel ausgegeben. Das waren fast zehn Prozent mehr als im Vorjahr, während die Verordnungsmengen kaum gestiegen sind. 7,1 Prozent aller verordneten Tagesdosen entfallen auf patentgeschützte Arzneimittel. Sie verursachen rund 54 Prozent der Nettokosten (siehe Abbildung). Das System wird von wenigen, teuren Produkten dominiert, darunter onkologische und immunmodulatorische Arzneimittel. Das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) sollte ab 2011 dieses Ungleichgewicht mildern, indem es Arzneimittelpreise stärker am Zusatznutzen orientiert. Doch die Steuerungskraft des Instruments hat abgenommen. Das Verfahren bringt Transparenz, aber es bleibt im Kern preisblind. Weder Opportunitätskosten noch die Gesamtbudgetwirkungen spielen eine systematische Rolle. Und die Industrie hat gelernt, das Verfahren für sich zu nutzen – über Orphanisierung, Indikations-Splitting und raffinierte Markteintrittsstrategien.

Grafik: Zwischen blau-weißen Pillen stapeln sich 3 Türme aus Euro-Stücken. Auf jedem liegt eine Pille. Daneben sind zwei Symbole. 1.: Eine Hand, darüber zwei Pillen; 2.: ein Tortendiagramm-Symbol.
Die gesetzlichen Krankenkassen verzeichnen für 2024 laut den vorläufigen Finanzergebnissen der GKV ein Defizit von rund 6,2 Milliarden Euro – unter anderem getrieben durch Arzneimittelausgaben auf historischem Höchststand.
14.03.2025Stefanie Roloff4 Min

Bewertung erneuern

Grafik: Patentmarkt treibt Arzneimittelkosten in die Höhe. Die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung sind seit 2011 von 26,3 auf 59,3 Milliarden Euro gestiegen. Der Anteil für patentgeschützte Arzneimittel lag 2024 bei 32 Milliarden.
Patentmarkt Arzneimittelkosten

Wie der Arzneimittel-Kompass 2025 deutlich macht, braucht Deutschland ein Bewertungsmodell, das den Realitäten eines globalisierten und hochpreisigen Arzneimittelmarktes gewachsen ist. Während Institutionen wie NICE in Großbritannien explizite Wirtschaftlichkeitsschwellen nutzen, fehlt in Deutschland bis heute ein methodisch abgeleiteter Preiskorridor. Das führt zu einem riskanten Effekt: Auch Therapien mit geringem Zusatznutzen können erhebliche Budgetbelastungen verursachen. Gleichzeitig prallen politische Forderungen aufeinander: Kostenträger verlangen Interimspreise ab Markteintritt, ein Ende von Geheimrabatten und mehr Effizienz beim Biosimilar-Einsatz. Ärzte warnen vor voreiligen Zulassungen auf dünner Evidenzbasis – die Solidargemeinschaft zahle hier allzu oft für Hoffnung statt für nachgewiesenen Nutzen. Patienten, vor allem mit seltenen Erkrankungen, dringen auf schnellen Zugang. Die Industrie betont Forschungsrisiken und die Notwendigkeit angemessener Preise, verschweigt aber häufig, wie stark Innovationen von öffentlicher Finanzierung abhängen. Die Gesellschaft zahlt oft doppelt: erst für die Grundlagenforschung, dann für die fertigen Produkte.

Ein Preis ist fair, wenn er transparent, gerechtfertigt und mit dem Patientenwohl vereinbar ist. Der Übergang zur europäischen Nutzenbewertung (EU-HTA) bei Arzneimitteln für neuartige Therapien und Onkologika ab 2025 verschärft die Notwendigkeit, nationale Verfahren mit europäischen Evidenzstandards zu verzahnen. Wo politischer Wille besteht, lassen sich auch extreme Preisbarrieren überwinden. Das hat die globale HIV-Behandlung bewiesen. Das häufig vorgebrachte Argument, hohe Arzneimittelpreise seien notwendig, um Deutschlands Forschungsstandort attraktiv zu halten, hält der Evidenz nicht stand. Standortentscheidungen hängen von Faktoren wie Infrastruktur und Fachkräften ab – nicht von nationalen Preishöhen.

Die heutige Preisbildung ist das Ergebnis überholter Routinen und asymmetrischer Aushandlungsprozesse. Die Legitimität des solidarischen Systems hängt davon ab, ob es gelingt, Innovation, Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit wieder in Balance zu bringen. Weder reine Kostenansätze noch reine Wertlogiken reichen aus. Die Zukunft liegt in einer integrierten Preisbildung, die Kosten, Evidenz und Nutzen zusammendenkt.

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