Artikel Gesundheitssystem

Der lange Weg zur sozialen Sicherheit

17.11.2023 Prof. Dr. Dr. Jens Holst 14 Min. Lesedauer

In Pakistan zahlen Menschen einen Großteil der Gesundheitskosten aus eigener Tasche. Krankheiten haben daher für arme Familien katastrophale Folgen. Um Abhilfe zu schaffen, baut das Land eine soziale Krankenversicherung auf. Das Projekt bekommt viel politischen Rückenwind, hat jedoch noch einige Hindernisse zu überwinden.

Foto von zwei traditionell gekleideten pakistanischen Jungen auf einem roten Sofa
Warten auf medizinische Hilfe – die sich in Pakistan viele Menschen kaum leisten können.

Seit rund 140 Jahren profitieren Menschen in Deutschland von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Pakistan hat sich 2009 auf den Weg gemacht, eine Krankenkasse aufzubauen. „Wenn es ein sozialpolitisches Programm mit breiter politischer Unterstützung gibt, dann ist es die Sehat-Sahulat-Krankenversicherung in Pakistan“, ist Dr. Irum Shaikh überzeugt. „Dieses Sozialprogramm steht über Parteigrenzen hinweg weit oben auf der politischen Tagesordnung und findet sich in den Wahlprogrammen der Parteien wieder“, ergänzt die stellvertretende Leiterin des von der KfW-Entwicklungsbank geförderten Sehat-Sahulat-Programms (SSP) in Khyber Pakhtunkhwa und Gilgit Baltistan. Auf diese beiden Provinzen an der Grenze zu Afghanistan beziehungsweise China konzentriert sich derzeit die finanzielle Zusammenarbeit Deutschlands mit Pakistan im Bereich der sozialen Sicherung. Nach Wahlerfolgen stehen die Premierminister und ihre Regierungen jeweils in der Pflicht, ihren Wahlversprechen Taten folgen zu lassen. Je nach Präferenz erweitern sie den Umfang des Leistungspakets um gefragte Behandlungen oder sorgen für die Aufnahme neuer Anspruchsberechtigter in die Krankenkasse.

Nachhaltige Entwicklungsziele verfolgen

Foto eines pakistanischen Mädchens, das eine Bluttransfusion erhält
Bluttransfusion bei Thalassämie: Das Sehat-Sahulat-Programm soll den Zugang zu solchen Behandlungen erleichtern.

Wie in vielen anderen Schwellen- und Entwicklungsländern wächst auch in Pakistan der Druck, die Bevölkerung sozial abzusichern. Dies ist zudem Teil der „Nachhaltigen Entwicklungsziele“, zu denen sich Pakistan verpflichtet hat. Für das Land von der zweieinhalbfachen Größe Deutschlands bedeutet das, allen 230 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern bis 2030 Zugang zu erforderlicher Krankenversorgung zu gewährleisten, ohne sie finanziell zu überfordern.

Bereits 2009 hatte die pakistanische Regierung die staatliche Lebensversicherung State Life Insurance Company (SLIC) mit Hauptsitz in Karatschi beauftragt, ein landesweites Krankenversicherungssystem aufzubauen. Keine leichte Aufgabe in einem Land, wo sich nur Reiche eine Privatversicherung leisten konnten und die große Mehrheit der Bevölkerung auf spärlich eingerichtete, unterfinanzierte und nur zeitweilig besetzte öffentliche Gesundheitsposten und Krankenhäuser angewiesen war. Und schon gar nicht angesichts der immensen anderen Herausforderungen, vor denen das Land bis heute steht. Denn um die Gesundheit der pakistanischen Bevölkerung ist es schlechter bestellt als in anderen vergleichbaren Ländern in Südasien mit ähnlicher wirtschaftlicher Entwicklung. Dies gilt insbesondere für die Mütter- und Kindersterblichkeit: Jedes elfte Kind in dem bevölkerungsreichen Land erreicht nicht das fünfte Lebensjahr. Das sind fast doppelt so viele wie in Bangladesch oder Nepal. Große Herausforderungen stellen vermeidbare Infektionen wie Durchfall- und Atemwegserkrankungen dar. Mit über einer halben Million Neuinfektionen pro Jahr weist Pakistan eine der höchsten Tuberkuloseraten weltweit auf. Gleichzeitig nimmt die Häufigkeit von nichtübertragbaren Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Herzerkrankungen sowie Verletzungen und psychischen Erkrankungen zu, die mittlerweile die Hälfte der Krankheitslast des Landes ausmachen.

Auch bei der Gesundheitsversorgung schneidet Pakistan im Vergleich zu anderen Ländern der Region schlecht ab. Die vielerorts unzureichende Ausrüstung der Versorgungseinrichtungen und teilweise mäßige Qualifikation des Personals lassen bisher keine flächendeckende, qualitativ ausreichende und bezahlbare Gesundheitsversorgung zu. Erschwerend kommt die in Pakistan stark ausgeprägte soziale Ungleichheit hinzu, die sich besonders drastisch im Stadt-Land-Gefälle und der gesellschaftlichen Stellung von Frauen gegenüber Männern zeigt.

Aber auch zwischen den sozialen Schichten und den Generationen bestehen große Unterschiede. Fast 50 Millionen Menschen leben unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Gleichzeitig müssen die Pakistani bisher mehr als die Hälfte aller Gesundheitsausgaben aus der eigenen Tasche zahlen. Die hohen Selbstzahlungen können viele entweder gar nicht oder nur über Schulden aufbringen.

„Wie in vielen anderen Schwellen- und Entwicklungsländern wächst in Pakistan der Druck, die Bevölkerung sozial abzusichern.“

Beratung aus Deutschland

Nach langjähriger, von pakistanischer Seite als zuverlässig und flexibel eingeschätzter Partnerschaft unterstützt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit das südasiatische Land heute beim Auf- und Ausbau seiner Krankenversicherungssysteme. Soziale Sicherung ist ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung, wie Entwicklungsministerin Svenja Schulze kürzlich in G+G betonte. In der Anfangsphase vor mehr als zehn Jahren war auch die AOK-Consult GmbH beteiligt. Im Auftrag der bundeseigenen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (giz) unterstützten Fachleute der AOK zunächst die staatliche Lebensversicherung SLIC bei den erforderlichen Bestandsaufnahmen und Kapazitätsanalysen, bei der Vermittlung von Grundkenntnissen und der Entwicklung einer Krankenversicherung für Mittellose. Darüber hinaus organisierte die AOK-Consult Studienreisen für pakistanische Experten und Beamte, bei denen diese grundlegende Abläufe im deutschen GKV-System kennenlernen konnten.

Vor zehn Jahren war das Krankenversicherungsteam bei SLIC noch sehr klein und recht unerfahren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten erst einmal den Unterschied zwischen einer Lebensversicherung, die wesentlich langfristiger planen und investieren kann, und einer Krankenkasse verstehen, deren Einnahmen sich allenfalls kurzfristig anlegen und deren Ausgaben sich erheblich schwerer abschätzen lassen. Die verschiedenen Funktionen einer Krankenversicherung wie Mitgliederverwaltung, Beitragserhebung, Festlegung des Leistungspakets oder Honorierung von Leistungserbringern waren Neuland für das SLIC-Team. So fragte Hafeez Uddin am Ende eines langen Tages etwas entmutigt die deutschen Berater: „Habt Ihr nicht ein Programm für uns, mit dem man die Krankenversicherung verwalten kann?“ Heute erklärt der Nationale Krankenversicherungskoordinator und SLIC-Regionalchef in Karatschi wortgewandt die Vor- und Nachteile von Zuzahlungen ebenso wie die Kopfpauschalen-Finanzierung der ambulanten Versorgung, die die Sehat-Sahulat-Versicherung zurzeit in Ergänzung zur bisherigen Kostenübernahme bei Krankenhausaufenthalten plant. Denn die Ausweitung des Krankenversicherungsschutzes auf ambulante und telemedizinische Leistungen, so Uddin weiter, würde die Inanspruchnahme stationärer Behandlungen und damit die Hospitalisierungsrate verringern und somit Ausgaben einsparen helfen.

Pakistan: Zahlen und Fakten

Karte von Pakistan
Pakistan ist zweieinhalb mal so groß wie Deutschland und hat fast 230 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. 1947 wurde die ehemalige Kolonie Britisch-Indien unabhängig. Wegen religiöser und ethnischer Konflikte erfolgte damals die Teilung in zwei Staaten: das überwiegend hinduistische Indien und das islamische Pakistan. 1971 führte der Krieg zwischen West- und Ost­pakistan zur Unabhängigkeit des östlichen Landesteils und Entstehung von Bangladesch als eigenständiger Staat.

Die Gesundheitsversorgung ist in Pakistan vielerorts mangelhaft. Gesundheitsposten sind oft unzureichend ausgestattet, gut funktionierende Kliniken gibt es meist nur in größeren Städten. Die Menschen müssen ihre Behandlung häufig aus eigener Tasche bezahlen. Beengte Lebensverhältnisse, schlechte hygienische Bedingungen und fehlender Zugang zu sauberem Wasser begünstigen die Ausbreitung von Seuchen wie Tuberkulose, Hepatitis und Cholera. Fast jeder achte Einwohner Pakistans, vor allem Kinder, ist unter- oder mangelernährt.

BIP pro Kopf: 1.597 US-Dollar (2022)
Gesundheitsquote: 3 Prozent (2020)
Lebenserwartung: 66 Jahre (2021)
Säuglingssterblichkeit: 53/1.000 Lebendgeburten (2021)

Quelle: Weltbank 2023

Versorgungsqualität verbessern

Auch die deutsche KfW-Entwicklungsbank beteiligt sich am Ausbau sozialer Sicherungssysteme in Pakistan. Zunächst förderte sie in ausgewählten Distrikten der Provinz Khyber Pakhtunkhwa den Aufbau einer Krankenversicherung für ärmere Bevölkerungsgruppen. Seit 2015 unterstützt sie dort ebenso wie in der Provinz Gilgit Baltistan die pakistanische Regierung bei der Entwicklung und Finanzierung einer Krankenversicherung für Arme.

Die Zusammenarbeit mit den zuständigen regionalen Gesundheitsministerien startete mit einer Machbarkeitsstudie, die neben dem Konzept und der Zielgruppe vertragliche Regelungen mit Krankenhäusern umfasste. „Die entscheidende Herausforderung dabei ist, den Versicherten Zugang zu qualitativ hochwertiger Krankenversorgung zu ermöglichen und gleichzeitig ihre Behandlung für die beteiligten Krankenhäuser attraktiv zu machen“, erklärt Professor Michael Niechzial, Ärztlicher Direktor der Consultingfirma management4health (m4h) GmbH, die das Projekt im Auftrag der KfW steuert und die regionalen Gesundheitsministerien der beiden Provinzen beim Management sowie bei der Ausweitung der Versicherung auf ambulante Gesundheitsleistungen in das Versicherungspaket unterstützt. Die Sehat-Sahulat-Krankenversicherung begann ursprünglich als Sozialprogramm für die Ärmsten der Armen. Zielgruppe waren zunächst die Anspruchsberechtigten des nach der früheren pakistanischen Ministerpräsidentin benannten Benazir-Bhutto-Einkommensunterstützungs-Programms BISP. Vorrangiges Ziel war es, der armen Bevölkerung Zugang zu qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung zu eröffnen. „Wir organisieren die Absicherung der Menschen, die sich bisher überhaupt keine medizinischen Behandlungen leisten konnten“, erklärt Hafeez Uddin das Anliegen von SLIC. Neben der finanziellen Absicherung im Krankheitsfall und besserem Zugang zur Versorgung als Kernvoraussetzungen für universelle Absicherung im Krankheitsfall soll Sehat-Sahulat auch zur Verbesserung der Versorgungsqualität beitragen.

Ausweitung war übereilt

Foto von zwei Angestellten, die Medikamente einsortieren
Immer noch zahlen die Menschen in Pakistan mehr als die Hälfte der gesamten Gesundheitsausgaben aus eigener Tasche – oftmals für Medikamente.

Seit der Einführung erfolgte die schrittweise Ausweitung der anfänglichen Kleinstversicherung mit geringer Leistungsabsicherung und kleiner Verwaltung auf größere Bevölkerungsgruppen. Eine gewisse Vorreiterposition nahm dabei die Provinz Khyber Pakhtunkhwa an der Grenze zu Afghanistan ein.

Ab 2016 weitete die Regionalregierung das Programm mit eigenen Mitteln auf die gesamte Provinz aus und öffnete die Versicherung praktisch für die gesamte Bevölkerung. Dieser Schritt im Vorfeld einer Neuwahl in der Provinz mit den landesweit höchsten Gesundheitsausgaben war primär politisch motiviert. Er war indes zu übereilt, um nachhaltig finanzierbar zu sein. Dessen ungeachtet weitete die Partei PTI („Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit“) von Premierminister Imran Khan die SSP-Versicherung im Januar 2022 auf ganz Pakistan aus.
 
Seither gilt der Personalausweis als Nationale Gesundheitskarte und berechtigt zumindest theoretisch alle pakistanischen Familien zur Inanspruchnahme kostenfreier Behandlungen bis zu einem Gesamtbetrag von 60.000 Rupien, umgerechnet knapp 200 Euro. Menschen mit bestimmten chronischen Krankheiten wie Diabetes, koronarer Herzkrankheit, Nierenschwäche oder Krebs genießen Versicherungsschutz bis zu 300.000 Rupien (950 Euro). Die zurzeit in Khyber Pakhtunkhwa eingeführte Sehat-Plus-Karte bietet sogar Versicherungsschutz bis 3.200 Euro pro Familie und Jahr.

Die Organisation der Krankenversicherung übernimmt fast überall im Land die staatliche Lebensversicherung SLIC. Deren Krankenversicherungsarm hat landesweit 42 Millionen Familien beziehungsweise 170 Millionen Versicherte registriert und zählt etwa 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Neben dem Hauptsitz in Karatschi, wo auch die zentrale Datenverarbeitung angesiedelt ist, betreibt sie Regionalbüros in der Hauptstadt Islamabad sowie in Lahore, Faisalabad und Peschawar. Damit ist sie weitgehend in den Provinzen präsent, in denen die Krankenversicherung arbeitet. Bis September 2023 hatte SSP die Kosten für insgesamt 13 Millionen Krankenhausbehandlungen übernommen.

„Die Krankenversicherung ist ein Meilenstein auf dem Weg zur potenziell universellen Absicherung der Menschen in Pakistan.“

Krankheitskosten lassen Familien verarmen

Die Krankenversicherung ist zweifelsohne ein Meilenstein auf dem Weg zur potenziell universellen sozialen Absicherung der Menschen in Pakistan. Sie verschafft auch der armen und marginalisierten Bevölkerung kostenfreien Zugang zu erforderlichen medizinischen Behandlungen und baut damit die zuvor hohen finanziellen Hürden ab.
 
Die soziale Absicherung im Krankheitsfall ist allerdings mit grundlegenden Problemen des pakistanischen Gesundheitssystems konfrontiert. Obwohl universelle Absicherung im Krankheitsfall seit Jahren zu den vorrangigen politischen Zielen der pakistanischen Regierungen gehört, sind Teile der Bevölkerung bisher nicht erfasst und kommen daher nicht in den Genuss kostenfreier medizinischer Behandlungen. Auch heute noch zahlen die Menschen in Pakistan mehr als die Hälfte der gesamten Gesundheitsausgaben aus der eigenen Tasche. Der größte Batzen fällt im ambulanten Bereich an, und dort ganz überwiegend für Medikamente. Und weiterhin verarmen viele Familien aufgrund von Behandlungskosten. Dabei hatte sich der Gesundheitsberater des im April 2022 wegen Korruptionsverdachts entmachteten pakistanischen Premierministers Imran Khan, Dr. Faisal Sultan, das ehrgeizige Ziel gesetzt, während dessen Amtszeit die Zahl derer zu halbieren, die wegen Krankheitsausgaben in Armut fallen. Bis 2030 sollten alle Menschen in Pakistan hinreichend finanziell abgesichert sein.

Informell Beschäftigte bleiben außen vor

Foto von Ahmed Ishtiaq (m.), Leiter der Sehat-Sahulat-Krankenversicherung in Gilgit-Baltistan, mit Poul Thim (l.) und Dr. Brig Habib Ur Rehman von der Beraterfirma m4h vor einem Schild der KfW-Bank an einem staubigen Parkplatz
Ahmed Ishtiaq (m.), Leiter der Sehat-Sahulat-Krankenversicherung in Gilgit-Baltistan, mit Poul Thim (l.) und Dr. Brig Habib Ur Rehman von der Beraterfirma m4h. Sie gestalten das von der KfW-Bank geförderte Programm in der Provinz im Norden Pakistans.

Ein Kernproblem bleibt die unzureichende staatliche Finanzierung. Die Selbstverpflichtung der pakistanischen Regierung zur Verbesserung der sozialen Absicherung im Krankheitsfall hat sich bisher kaum spürbar in ihren Gesundheitsausgaben niedergeschlagen. Die öffentliche Gesundheitsquote liegt weiterhin bei sehr bescheidenen 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Damit steht Pakistan im internationalen Vergleich weit unten. Bei der derzeitigen Finanzierung der Sehat-Sahulat-Versicherung ist das mehr als bedenklich. „Eigentlich ist SSP ja gar keine soziale Krankenversicherung“, erklärt Irum Shaikh. „Die jeweiligen Provinzregierungen zahlen sowohl die Versichertenbeiträge als auch die Kosten komplexerer Behandlungen, die den Leistungsumfang der Versicherung überschreiten.“ In der Tat: Solange die Beiträge nicht einmal ansatzweise an den Verdienst beziehungsweise die Zahlungsfähigkeit der Versicherten angepasst sind, kann man schwerlich von einer sozialen Krankenversicherung sprechen.

Hier zeigt sich ein grundsätzliches Dilemma dieser Form von Krankenversicherung, das in vielen Niedrigeinkommensländern zu beobachten ist: Sie ist typischerweise auf formale abhängige Beschäftigung zugeschnitten, stößt aber in einer Volkswirtschaft mit großem informellem Sektor an ihre Grenzen. Denn informelle Arbeit bedeutet, es gibt keine Arbeitgeber, die einen Teil der Beiträge tragen, kein regelmäßiges Einkommen und vor allem kaum eine Möglichkeit, dieses Einkommen zu erfassen und Beiträge entsprechend der Zahlungsfähigkeit zu erheben.

Universelle Absicherung ist Langzeit-Projekt

Auch in Deutschland dauerte es schließlich 80 Jahre, bis beispielsweise selbstständige Landwirtinnen und Landwirte, Journalistinnen und Journalisten und Kunstschaffende Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung fanden. Andere Länder, in denen das Ziel der universellen Absicherung im Krankheitsfall von Anfang an eine wichtige Rolle spielte, waren schneller, allen voran Südkorea mit nur zwölf Jahren. Aber weltweit bieten viele ärmere Länder wie Guatemala, Paraguay, Kenia, Tansania oder die Philippinen nur einem meist kleineren Bevölkerungsanteil eine soziale Krankenversicherung.

In Pakistan arbeiten gut zwei Drittel aller Beschäftigten informell. Die allermeisten von ihnen verdienen ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht als Kleinbauern, Rikschafahrer, Straßenhändlerinnen oder mit anderen unterbezahlten Tätigkeiten. Bis zur Einführung von Sehat Sahulat hatten sie keinerlei soziale Absicherung. Wenn sie krank wurden, war die ohnehin durch Überschwemmungen, Dürren und andere Auswirkungen des Klimawandels bedrohte wirtschaftliche Existenz ihrer Familie zusätzlich gefährdet.

Gesundheitseinrichtungen ausbauen

Aus sozialpolitischer Sicht ist die Entscheidung Pakistans für eine bisher ausschließlich über Steuern finanzierte nationale Krankenversicherung nachvollziehbar und sicherlich der schnellste Weg zur Absicherung eines großen Teils der Bevölkerung. Wie lange das großzügige staatliche Absicherungsprogramm bezahlbar ist, wird sich allerdings erst noch zeigen müssen. „Die größte Herausforderung besteht bei der nachhaltigen Finanzierung der Krankenversorgung“, gibt SLIC-Koordinator Hafeez Uddin zu bedenken, „sodass Zuzahlungen für diejenigen im Raum stehen, die sie bezahlen können. Viel besser wäre es aber, von denen Beiträge zu erheben.“ Tatsächlich fressen die Ausgaben für die Krankenversicherung sowie für sehr teure Leistungen praktisch das gesamte Gesundheitsbudget auf, bestätigt Irum Shaikh von management4health. „Die Regierung subventioniert überwiegend die Nachfrageseite, aber für den Auf- und Ausbau öffentlicher Krankenhäuser bleibt nichts mehr übrig.“ Das ist problematisch, denn die Menschen sind dann zwar krankenversichert, bekommen die Leistungen jedoch nur in ärmlich ausgestatteten Gesundheitseinrichtungen mit oftmals mäßiger Versorgungsqualität.

Foto: Illustration einer Weltkugel, die auf einer Tastatur liegt, daneben liegt ein Stethoskop.
Vor mehr als zehn Jahren legte Pakistan mit dem Sehat-Sahulat-Programm den Grundstein für eine soziale Krankenversicherung. Anders als in Deutschland finanziert sie sich allerdings kaum über Beiträge, sondern über den Staat. Daher hängt das Projekt von den politischen Prioritäten ab, sagt Michael Niechzial.
17.11.2023Jens Holst4 Min

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