„Unsere Sozialsysteme sind reformfähig“
Die Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland sind besser, als sie öffentlich dargestellt werden, sagt Christine Fuchsloch. Die Präsidentin des Bundessozialgerichtes (BSG) warnt die Politik davor, falsche Reformerwartungen zu wecken: Strukturveränderungen würden länger brauchen.

Frau Dr. Fuchsloch, wir befinden uns mitten im „Herbst der Reformen“. Wie renovierungsbedürftig ist unser Sozialstaat?
Dr. Christine Fuchsloch: Wir haben gut durchdachte, tragfähige soziale Systeme, die reformfähig sind und die auch schon viele Reformen erlebt haben. Unsere Sozialsysteme leben davon, dass die Menschen ihnen vertrauen, dass die Systeme gut adminis-triert werden und dass es eine vernünftige Gerichtsbarkeit gibt. Das ist ein ganz hoher Wert. Das spiegelt sich im aktuellen Diskurs leider nicht wider. Wir reden zu viel über Geld und zu wenig über Inhalte und den Wert des Sozialstaates. Es gibt Möglichkeiten, etwas zu verändern. Über diese Punkte müssen wir sprechen. Aber Alarmismus nach dem Motto „Alles fährt an die Wand“ finde ich unangemessen. Wenn ich mir den Bereich des Bürgergeldes anschaue, für den ich beim BSG zuständig bin, dann kann ich nur sagen: Es funktioniert in der Verwaltung vieles sehr gut. Darüber wird zu wenig geredet.
Sie haben vor einer Überforderung der Bürgerinnen und Bürger durch ein immer komplexeres Sozialrecht gewarnt. Wird bei uns zu viel geregelt?
Fuchsloch: Für die Sozialgerichtsbarkeit besteht das Problem eher darin, dass etwas nicht präzise genug geregelt wird. Was bedeutet zum Beispiel „angemessen“, wenn es heißt „Die angemessenen Kosten der Unterkunft werden erstattet“? Im Sozialrecht haben wir es zudem mit der Schwierigkeit zu tun, dass für gleiche Lebenssituationen verschiedene Leistungen mit unterschiedlichen Einkommens- und Altersgrenzen oder Bezugszeiträumen gewährt werden, die schlecht aufeinander abgestimmt sind.
Im Koalitionsvertrag regen Union und SPD unter anderem an, Kinderzuschlag und Wohngeld zusammenzulegen.
Fuchsloch: Das ist schon deshalb nicht einfach, weil die eine Leistung von einer Bundesbehörde umgesetzt wird und die andere von einer Kommune. Das Zusammenlegen von Leistungen wird außerdem durch Rechtsunterschiede zwischen dem Beitragssystem einer Sozialversicherung und steuerfinanzierten Leistungen mit Bedürftigkeitsprüfung erschwert. Im Bereich der Systeme mit Bedürftigkeitsprüfung lässt sich sicher einiges zusammenlegen. Bei der Kindergrundsicherung hat man aber gesehen, wie schwierig es ist, so etwas mit unterschiedlichen Systemen und Trägern unbürokratisch hinzubekommen.
Wo würden Sie als erstes ansetzen?
Fuchsloch: Wir brauchen dringend systemübergreifende IT-Standards und eine einheitliche IT-Infrastruktur ohne Schnittstellen. Die Kindergeldkasse verwendet andere IT als das Jobcenter und die zuständige Kommune schon mal sowieso. Hier am BSG landen drei verschiedene elektronische Gerichtsaktensystme mit etwa 120 verschiedenen Verwaltungsakten-
Systemen, die wir auch nicht auf Anhieb lesen können. Die Idee gemeinsamer IT-Plattformen finde ich gut. Dann würde beispielsweise einmal das Einkommen hinterlegt, und die verschiedenen Behörden oder Träger könnten darauf zugreifen, ohne dass Betroffene immer wieder neue Anträge stellen müssten.

Auch um diese Dinge soll sich die Ende August von Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas eingesetzte Sozialstaatskommission kümmern.
Fuchsloch: Die Kommission soll schon im Januar 2026 einen Abschluss-bericht vorlegen. Konkrete Vorschläge für strukturelle, durchdachte Veränderungen bis dahin halte ich angesichts unterschiedlicher Verwaltungsstrukturen und IT-Systeme für völlig unrealistisch. Es kann höchstens um Zielvorstellungen gehen. Generell sollte sich die Politik nicht selbst so unter Zeitdruck setzen und keine Erwartungen wecken, die nicht zu erfüllen sind. Strukturveränderungen brauchen länger.
Ihr Amtsvorgänger Professor Rainer Schlegel hat sich oft zu tagespolitischen Fragen geäußert. Wie halten Sie es?
Fuchsloch: Das ist eine Frage des Rollenverständnisses. Als Justiz leben wir von der Neutralität und der Unparteilichkeit. Sozialgerichte haben ein Interesse daran, dass das Recht möglichst gut ist und dass Verwaltungsabläufe gut funktionieren. Wenn etwas unzureichend ist, beanstanden wir das auch. Deshalb habe ich mich öffentlich mehrfach zum Thema Kindergrundsicherung geäußert. Die danach geplante Umsetzung habe ich als schlechtes, überbürokratisch organisiertes Recht bewertet. Das habe ich nicht aus einem politischen Impetus heraus kritisiert, sondern weil ich als Vertreterin der Sozialgerichtsbarkeit ein tiefes Interesse daran habe, dass wir ein Sozialrecht bekommen, das gut und unbürokratisch funktioniert und das die Menschen gut annehmen können. Probleme beseitigt man am besten, bevor ein Gesetz in Kraft tritt und nicht erst im Nach-hinein.
Lässt sich die Politik im Vorfeld durch das BSG beraten?
Fuchsloch: Es gibt keine Pflicht, die Sozialgerichtsbarkeit einzubeziehen. Aber es ist sicherlich sinnvoll, jemanden mit fachlicher Expertise darauf schauen zu lassen. Das BSG bekommt Gesetzentwürfe auf der Ebene der Verbändeanhörung und erstellt dazu fachliche Stellungnahmen. Das ist eine Form von Beratung im Vorfeld. Dazu muss die Politik den Beteiligten allerdings auch die nötige Zeit einräumen. Das klappt nicht immer.
„Es funktioniert in der Verwaltung vieles sehr gut. Darüber wird zu wenig geredet.“
Präsidentin des Bundessozialgerichtes (BSG)
Im Koalitionsvertrag steht, dass Gesetzgebungsverfahren wieder sorgfältiger und mit längeren Stellungnahme-Fristen gehandhabt werden sollen.
Fuchsloch: In der Regel soll die Frist vier Wochen betragen. Davon ist leider noch wenig zu spüren. Zuletzt hatten wir wieder Fälle mit allenfalls einer Woche Zeit zur Stellungnahme, noch dazu in der Urlaubszeit. Da ging es durchaus um große Gesetzesveränderungen. Wenn etwas Gutes herauskommen soll, ist es wichtig, sich mehr Zeit zu nehmen und alle Beteiligten stärker einzubeziehen. Und danach braucht man ausreichend Zeit für die Umsetzung von Gesetzesänderungen. Das sehen wir jetzt bei der Mütterrente III. Abgeschlossene Lebenssachverhalte sozialrechtlich neu anzufassen, ist sehr aufwendig.
Die Justiz klagt nicht gerade über Unterbeschäftigung. Sie dagegen wünschen sich sogar mehr Fälle für das BSG. Warum?
Fuchsloch: Die sehr beschleunigte Sozialgesetzgebung sorgt für viele offene Rechtsfragen. Als Bundesgericht haben wir die Aufgabe, diese offenen Rechtsfragen zu beantworten und schwierige Sachverhalte zu klären. Auch für Sozialversicherungsträger und Behörden ist es wichtig zu wissen, wie etwas ausgelegt wird. Wir können das Recht aber nur fortbilden oder Schwachpunkte benennen, wenn wir die Fälle dazu haben. Es dauert ohnehin eine ganze Weile, bis neues Recht zur Klärung zum BSG kommt. Deshalb werbe ich dafür, Revisionen zuzulassen. Bei Fragen, die schnell geklärt werden müssen, lässt ein Sozialgericht auch die Sprungrevision zum Bundessozialgericht zu, das heißt die Ebene des Landessozialgerichts wird übersprungen. In der Sozialgerichtsbarkeit ist das einfacher als in der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Wie lange dauert es, bis ein Fall beim BSG landet?
Fuchsloch: Ein Jahr pro Instanz – Sozialgericht und Landessozialgericht – ist durchaus normal. Wenn medizinische oder andere Begutachtungen nötig sind, dann kann es auch länger dauern. Es gibt auch die wesentlich schnelleren Eilverfahren, aber die kommen nicht bis zum BSG. Mit einer Sprungrevision kann ein Fall auch schon in etwa eineinhalb Jahren bei uns landen. Für die Klärung offener Rechtsfragen braucht es aber immer auch den richtigen Fall.
In den Verfahren vor Sozialgerichten geht es oft um nicht bewilligte Leistungen. Hat die Klagebereitschaft der Versicherten zugenommen?
Fuchsloch: Die Anzahl der Klagen hat abgenommen, aber die Vehemenz mit der gestritten wird, hat zugenommen. Die Frustrationsschwelle ist gesunken. Das betrifft alle Sozialleistungen. Aus Sicht der Sozialgerichtsbarkeit könnten aber zum Beispiel die Krankenkassen auch manchen Streit um Leistungen vermeiden. Das betrifft im Hilfsmittelbereich etwa die Hörgeräteversorgung. Aus unserer Erfahrung überlassen die Kassen die Beratung zu oft den Hörgeräteakustikern. Die könnten zwar auch zum Festbetrag, den die Krankenkasse bezahlt, ein gutes Gerät empfehlen, haben aber ein nachvollziehbares ökonomisches Interesse daran, teurere Geräte zu verkaufen. Hier wäre es hilfreich, wenn die Kassen mit ihrem Sachverstand die Versicherten besser über bedarfsgerechte Angebote zum zuzahlungsfreien Festbetrag informieren. Und im Bereich der Rehabilitation hapert es trotz der schon vor längerer Zeit geschaffenen und zwischenzeitlich noch einmal nachgeschärften gesetzlichen Rahmenbedingungen immer noch an einer effizienten und an den Interessen der Versicherten orientierten Zusammenarbeit der unterschiedlichen Kostenträger.
Bei der Krankenhausreform wird es voraussichtlich mehr länderspezifische Regeln geben als ursprünglich geplant. Kommt da eine Welle von Verfahren auf die Sozialgerichte zu?
Fuchsloch: Das ist schwer abzuschätzen. Der Prozess war straffer gedacht, und es wäre sicher sinnvoller, durch bundeseinheitliche Regeln gleiche Voraussetzungen zu schaffen und die Versorgungsqualität auf ein gemeinsames Niveau zu heben. Öffnungsklauseln können dazu führen, dass sich Partikularinteressen durchsetzen und die Versorgungsqualität leidet. Auf der anderen Seite sind politische Kompromisse Demokratiekosten, die hinzunehmen sind. Für die planungsrechtlichen Fragestellungen sind aktuell die Verwaltungsgerichte zuständig, wenn es etwa um die Zuweisung von Leistungsgruppen geht. Die Sozialgerichte können damit aber auch befasst sein, wenn etwa ein Krankenhaus von den Krankenkassen den Abschluss eines Versorgungsvertrages begehrt. Sie kommen zudem dann ins Spiel, wenn es um die Vergütung von Krankenhausleistungen und um Vorgaben zur Qualitätssicherung geht, wie etwa die Mindestmengen oder Personaluntergrenzen. Für das Budget sind dagegen wieder die Verwaltungsgerichte zuständig. Das macht die Sache sehr kompliziert.

Immer weniger Nachwuchsjuristen entscheiden sich für das Sozialrecht. Warum?
Fuchsloch: In der Tat haben wir einen großen Bedarf, aber einen zunehmenden Mangel an Sozialrechtlerinnen und Sozialrechtlern. Das liegt vor allem an der universitären Ausbildung. Anders als Öffentliches Recht oder Zivilrecht ist Sozialrecht kein Pflichtprüfungsfach. Die Anzahl der sozialrechtlichen Lehrstühle ist stark rückläufig. Viele Studierende kommen mit Sozialrecht gar nicht erst in Berührung. Sozialrecht ist zudem kompliziert, das schreckt viele ab. Und im sozialrechtlichen Gebührensystem verdienen sie als Anwalt schlechter als mit anderen Mandaten. Gerade im Bereich der Grundsicherung finden Bürger inzwischen oft keine Anwältin oder keinen Anwalt mehr. Um Abhilfe zu schaffen, brauchen wir vor allem attraktivere Gebühren. Aber das A und O ist die Studien-Prüfungsordnung. Im Übrigen unternehmen wir auch beim BSG einiges, um junge Kolleginnen und Kollegen für unsere Fachrichtung zu begeistern. Sozialrecht ist ein spannender Bereich, der in irgendeiner Form alle Menschen betrifft – von der Wiege bis zur Bahre.
Die gesellschaftliche Stimmung ist gereizt. Erleben Sie auch beim BSG Anfeindungen?
Fuchsloch: Es gibt einiges, was wir an die Staatsanwaltschaft weiterleiten, darunter auch persönliche Anfeindungen. Wir bekommen auch viel mehr Dienstaufsichtsbeschwerden als früher. Und es gibt schmutzige Internetseiten, auf denen meine Kolleginnen und Kollegen und ich zu finden sind. Wir versuchen dann mit Google zu klären, dass diese Seiten nicht in den Suchergebnissen landen, aber das ist ein schwieriges Unterfangen. Mir ist es wichtig, dass sich die Institution wehrt und wir das nicht den einzelnen Betroffenen überlassen. Es geht hier nicht um persönliche Befindlichkeiten. Wir dürfen nicht hin-nehmen, dass staatliche Institutionen so beschimpft werden.
Zur Person
Mit Dr. Christine Fuchsloch steht seit März 2024 erstmals eine Frau an der Spitze des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel. Im Oktober 2023 wählte sie der Richterwahl-ausschuss des Deutschen Bundestags zur Richterin am BSG. Die heute 61-Jährige wurde 2004 zur Richterin am Landes-sozialgericht Berlin-Brandenburg ernannt. Ab Juli 2010 war Fuchsloch Präsidentin des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein und parallel von 2020 bis August 2024 Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts.
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