Letzter Ausweg Babyklappe
Ein sicherer Ort für ungewollte Neugeborene: Vor 25 Jahren errichtete ein Hamburger Verein die erste Babyklappe in Deutschland. Das Modell fand damals schnell Nachahmer. Die Betreiber sehen in ihrem Engagement einen wichtigen Beitrag, um Kinderleben zu retten. Kritiker hingegen halten die Einrichtungen für überholt oder gar schädlich.


Die Stahlklappe in einer weißen Holztür in Hamburg-Altona ist 30 Zentimeter hoch und 72 Zentimeter breit. Dahinter befindet sich ein beheiztes Wärmebettchen mit einer konstanten Temperatur von 37 Grad. Ein Schlafsack und je nach Jahreszeit warme Kleidung und ein Mützchen liegen bereit, ebenso Schnuller und ein Spielzeug. Ein Plüschhase strahlt Geborgenheit aus. Es handelt sich um Deutschlands dienstälteste Babyklappe, die im April 2000 in der Goethestraße 27 eröffnet wurde.
Die Idee dazu entstand am Frühstückstisch einer Hamburger Familie. In der Zeitung lasen Heidi Kaiser, Dr. Jürgen Moysich und ihre gemeinsame Tochter Leila Moysich, dass innerhalb weniger Monate ein viertes Baby in der Hansestadt ausgesetzt worden war. Von den vier Säuglingen waren zwei tot aufgefunden worden. „Dass Frauen so verzweifelt sind und ihr Neugeborenes einfach irgendwo ablegen, wo es womöglich zu Schaden kommt, hat uns betroffen gemacht“, erzählt Leila Moysich. „Wir waren uns einig, dass es so etwas in einer eigentlich reichen Stadt wie Hamburg nicht geben darf.“ Ihre Eltern hatten zehn Jahre zuvor den Verein SterniPark gegründet, der sich für Kinder in Not einsetzt und mit einer Kita im Sternschanzenpark begann. Der Familie kam der Einfall, einen weitgehend vor Blicken geschützten Nebeneingang der Kita in der Goethestraße umzufunktionieren und in der Tür eine Klappe mit Griff anzubringen. Mütter in Not können ihr Kind dahinter sicher in ein Bettchen legen.
Bis zu 100 Babyklappen
Leila Moysich machte damals gerade ihr Abitur, heute ist sie Geschäftsführerin von SterniPark. Der Verein hat sich inzwischen zum größten freien Kita-Träger der Hansestadt entwickelt, betreibt auch Mutter/Vater-Kind-Häuser, Jugendhilfe-Wohngruppen und ein Notruftelefon. Insgesamt betreut SterniPark drei Babyklappen – zwei in Hamburg und eine im schleswig-holsteinischen Mittelangeln-Satrupholm.
In Deutschland folgten andere Vereine und Kliniken schon bald dem Hamburger Beispiel und gründeten ebenfalls solche Stellen. Nach Schätzungen, regionalen Berichten und Medienquellen sei zurzeit von 70 bis 100 Babyklappen in Deutschland auszugehen, teilt das Bundesfamilienministerium auf Anfrage mit. Offiziell wird die Zahl nicht erfasst. SterniPark sind in den 25 Jahren insgesamt 60 Findelkinder übergeben worden – das erste keine acht Wochen nach Eröffnung der Babyklappe, das bislang letzte im November 2024.
Aus einem Umschlag kann sich die Mutter einen Brief in mehreren Sprachen mitnehmen. Darin steht, wie und wo sie Kontakt aufnehmen kann, wenn sie das Kind wiederbekommen möchte. Außerdem liegt ein Stempelkissen bereit, mit dem sie einen Fuß- oder Handabdruck ihres Babys zur Erinnerung machen kann. Natürlich darf sie auch persönliche Sachen hinterlassen. Häufig finden die Helfer neben dem Kind Briefe oder Kuscheltiere. Bei Kind Nummer zehn, der heute 23-jährigen Ronja, die offen über ihr Schicksal spricht, wurde eine Kette gefunden. Zu der jungen Frau hat der Verein noch immer Kontakt.
Acht-Wochen-Frist
Wird ein Mädchen oder Junge in das Bettchen gelegt, ertönt über Sensoren ein Alarm und die ehrenamtlichen Helfer des Projekts „Findelbaby“ werden über das Bereitschaftstelefon informiert. Der Säugling werde dann sofort zur Untersuchung in eine Kinderklinik gebracht, erzählt Moysich. Später wird das Kind durch ehrenamtliche Pflegefamilien betreut. „Bis zu acht Wochen hat die Mutter Zeit, sich zu überlegen, ob sie nicht doch ein Leben mit dem Kind möchte“, erläutert die Babyklappen-Initiatorin. Ab der achten Woche wird vom Familiengericht ein Vormund eingesetzt und es wird eine Adoptivfamilie gesucht. „Rein theoretisch hat die Mutter auch im ersten Jahr der Adoptionspflege noch die Möglichkeit, sich zu melden und ihr Kind mit Erlaubnis des Gerichts zurückzunehmen“, so die SterniPark-Leiterin. Das sei zwar bei ihnen noch nicht vorgekommen, dagegen haben sich während der Acht-Wochen-Frist mehrfach Mütter gemeldet: „16 von den 60 abgegebenen Kindern leben mittlerweile wieder bei ihren Müttern. Das macht für uns den großen Erfolg unserer Arbeit aus“, sagt Moysich.
Die in die Babyklappe gelegten Kinder befanden sich überwiegend in einem guten Zustand, dennoch geschehen die Geburten in der Regel unter gefährlichen Bedingungen. Die Mütter entbinden oft allein zu Hause im Badezimmer, im Park oder im Wald. „Das stellt eine große Gefahr für Mutter und Kind dar“, sagt Moysich. Ihr Verein hat kurz nach der Eröffnung der Babyklappe im April 2000 darauf reagiert und die Möglichkeit zur anonymen Geburt geschaffen. Im Sommer desselben Jahres half der Verein erstmals einer Frau, ihr Kind in einem Flensburger Krankenhaus auf die Welt zu bringen, ohne dass sie ihren Namen preisgeben musste. Insgesamt seien bislang rund 850 Frauen entsprechend betreut worden. „60 Prozent der Mütter haben sich am Ende doch noch für ein Leben mit dem Kind entschieden“, sagt Moysich. Von den anderen habe der überwiegende Teil immerhin die Personalien hinterlassen, um dem Kind Klarheit über seine Herkunft zu geben und vielleicht irgendwann in Kontakt treten zu können. „Lediglich 27 Prozent wollten dauerhaft anonym bleiben.“
„Keiner Mutter fällt es leicht, ihr Kind abzugeben.“
Leiterin des Mutter-Kind-Hauses "Weraheim" in Stuttgart
„Babyklappen retten Leben“
Für Moysich ist klar: „Babyklappen und die anonyme Geburt retten Leben.“ Als Erfolg ihrer Initiative sieht sie, dass es in Hamburg seit Bestehen der Babyklappe keine Kindesaussetzung oder Kindstötung mehr gegeben habe. Auch die Baden-Württembergerin Carola Strauß ist vom Konzept der Babyklappe überzeugt. Sie ist Leiterin des Weraheims in Stuttgart, das von der kirchlichen Stiftung „Zufluchtsstätten in Württemberg“ getragen wird. Die in dem Mutter-Kind-Haus im Jahr 2002 geschaffene Babyklappe ist mit 46 Abgaben in 23 Jahren ebenfalls eine der stark frequentierten in Deutschland. „Die Babyklappe soll Frauen in verzweifelten Lebenssituationen unbürokratisch und niederschwellig Hilfe anbieten, ohne dass sie ihr Kind gefährden“, erläutert Strauß. Schwangerschaften würden von Frauen in Notsituationen oft verleugnet. Häufiger als gemeinhin angenommen komme es zudem vor, dass Schwangerschaften von Frauen nicht bemerkt würden. „Es gibt Frauen, die werden von der Geburt überrascht und gehen einen Tag vorher in die Apotheke und holen sich ein Mittel gegen Blähungen.“
Mütter in großer Not
Gemeinsam sei den Frauen, die ihr Kind abgeben, dass sie sich in einer sehr unsicheren Lebenssituation und aus ihrer Sicht ausweglosen Lage befänden, weiß Strauß. So mangele es ihnen etwa an Geld, Wohnraum, einem Arbeitsplatz oder auch an sozialen Kontakten. Manche stehen am Anfang ihrer Berufslaufbahn, andere müssen eine Schwangerschaft vor ihrer Familie oder dem Arbeitgeber geheimhalten. „Manche haben schon mehrere Kinder und glauben, einem weiteren nicht gerecht werden zu können“, ergänzt Moysich. „Hilfe des Jugendamtes holen sie sich aber nicht, weil sie fürchten, die Behörde könne ihnen die anderen Kinder wegnehmen.“
Auch wenn einige Einrichtungen ihre Babyklappen für immer schließen, kann Strauß keine Tendenz erkennen, dass der Bedarf rückläufig ist. „Die Babyklappen sind nach wie vor ein unglaublich wichtiges Angebot, um zu verhindern, dass ein Kind einfach irgendwo zurückgelassen wird.“ Kritikern, die behaupten, durch die Babyklappe trennten sich Frauen zu leichtfertig von einem ungewollten Kind, widerspricht die Stuttgarterin vehement: „Keiner Mutter fällt es leicht, ihr Kind abzugeben.“ Sie habe sogar großen Respekt vor den Frauen, die sich direkt nach der beschwerlichen Geburt auf den Weg machten, um das Kind in die Babyklappe zu legen.
Ethikrat forderte Schließung
Babyklappen-Befürworterinnen wie Strauß und Moysich stoßen mit ihrem Engagement seit jeher auf massive Kritik. Der Deutsche Ethikrat etwa forderte schon 2009 in einer Stellungnahme, die Einrichtungen zu schließen. Babyklappen und anonyme Geburten seien „ethisch und rechtlich sehr problematisch, insbesondere weil sie das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft und auf Beziehung zu seinen Eltern“ verletze. Die bisherigen Erfahrungen legten zudem nahe, dass Frauen, bei denen die Gefahr bestehe, dass sie ihr Neugeborenes töten oder aussetzen, von den Angeboten nicht erreicht würden, erklärte das politisch einflussreiche Gremium. Die öffentlichen Stellen der Kinder- und Jugendhilfe und freien Träger sowie die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen hielten auf gesetzlicher Grundlage ein umfangreiches Angebot an Hilfestellungen für Frauen auch in extremen Notlagen bereit.
Inzwischen gibt es deutlich mehr Beratungs- und Hilfsmöglichkeiten für schwangere Frauen. Anders als vor 25 Jahren profitieren Familien zudem von Elternzeit, Elterngeld und dem Recht auf einen Kita-Platz ab dem ersten Geburtstag des Kindes. Vor allem verweisen Kritiker auf die 2015 per Gesetz eingeführte „vertrauliche Geburt“. Dabei stellt sich die Schwangere in einer Beratungsstelle vor und ihre Daten werden zentral hinterlegt. Die Klinik, in der die Geburt stattfindet, führt die Mutter unter einem Pseudonym. Das Kind wird als „vertraulich geboren“ gemeldet. Nach Vollendung des 16. Lebensjahres hat dieses allerdings das Recht, die Identität der Mutter zu erfahren, sofern keine schwerwiegenden Gründe dagegensprechen.
„Modell ist überholt“

„Mit der vertraulichen Geburt gibt es eine gesetzlich geregelte, sichere und zugleich anonyme Möglichkeit, ein Kind zur Welt zu bringen. Aus unserer Sicht hat sich das Konzept der Babyklappen damit überholt“, sagt Daniel Grein, Bundesgeschäftsführer des Kinderschutzbundes. Die Babyklappe sehe er kritisch, denn sie berge gesundheitliche Risiken für die gebärende Frau „und sie verwehrt dem Kind dauerhaft sein Recht auf Wissen über die eigene Herkunft“. Kinder und Jugendliche, die nichts über ihre Wurzeln erführen, trügen diese Unsicherheit oft ihr Leben lang mit sich. „Diese Ungewissheit kann emotional sehr belastend sein“, so Grein.
Auch Moysich weiß, dass Kinder und Jugendliche darunter leiden, nichts über ihre familiären Wurzeln zu wissen. „Richtig ist: Die UN-Kinderrechtskonvention besagt, jedes Kind hat ein Recht auf Kenntnis seiner Herkunft. Aber es muss erstmal gesund auf die Welt kommen und leben, bevor es danach fragen kann, wer seine leiblichen Eltern sind“, hält die Hamburgerin den Kritikern entgegen. Letztlich gebe es auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Die Bonner Psychiaterin Anke Rohde gehört zu den scharfen Gegnerinnen der Babyklappe und der anonymen Geburt. Zahlen belegten, dass Kindstötungen dadurch nicht verhindert würden. Stattdessen aber werde der ordentliche Adoptionsprozess unterbunden, der es Müttern und Kindern ermögliche, das Ganze in ihr Leben zu integrieren und zu verarbeiten. „Eine heimliche Abgabe wird für die Mutter zum ewigen Trauma und nimmt dem Kind jegliche Rechte auf das Wissen um seine Geburt, seine Eltern“, merkt die Universitätsprofessorin an. Nicht zuletzt würden dem Kind seine Erbrechte genommen. Tötungen von Neugeborenen, sogenannte Neonatizide, seien schon allein deswegen nicht zurückgegangen, weil sie meist von Frauen mit erheblichen Persönlichkeitsproblemen verübt würden. Bei ihnen sei der Prozess einer gesunden Auseinandersetzung mit der ungewollten Schwangerschaft unterbrochen. Das Schwangersein werde von ihnen in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen negiert. Die für sie konzipierten Babyklappen und anonymen Geburten würden wegen der fehlenden Beschäftigung mit dem Thema daher gar nicht in Erwägung gezogen. Komme es dann mehr oder weniger unerwartet zur Geburt, bestehe die Gefahr, dass das Kind in einer Stress- und Panikreaktion oder aus Angst vor Entdeckung getötet werde, erläutert Rohde. Oder das Baby sterbe an Unterversorgung.
Betreiber machen weiter
SterniPark-Geschäftsführerin Moysich bekommt solche und ähnliche Argumente immer wieder zu hören. Sie ist jedoch davon überzeugt, dass die Babyklappen auch nach einem Vierteljahrhundert nicht ausgedient haben. Das Leitmotiv von ihr und ihren Eltern sei damals gewesen: „Wenn wir in fünf Jahren auch nur ein Kind in der Babyklappe haben, hat sich all die Mühe gelohnt.“ Zurzeit komme etwa ein Säugling pro Jahr „So lange das so ist, werden wir das aus Spenden und ehrenamtlicher Arbeit getragene Projekt fortsetzen“, versichert sie.
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