Schwarz-Rot braucht Kraft und Mut
Die Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung stabilisieren und damit das Solidarsystem zukunftsfähig machen: Auf die neue Regierung warten große Herausforderungen. Um sie zu bewältigen, muss Schwarz-Rot für strukturelle Reformen des Gesundheitssystems sorgen.

Etwas mehr als eine Woche Zeit hatte die Koalitionsarbeitsgruppe „Gesundheit und Pflege“, um die Grundzüge der Reformagenda einer neuen schwarz-roten Bundesregierung zu skizzieren. Wenig Zeit für intensive fachpolitische Diskussionen, feingranulare Vereinbarungen und einen ausgefeilten Masterplan. Es wäre aber genug Zeit gewesen für ein klares Signal: Wir packen die Probleme an. Ein funktionierendes öffentliches Gesundheits- und Pflegesystem kann einen entscheidenden Beitrag zum sozialen Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten. Es kann das Vertrauen der Menschen in die öffentliche Hand und das politische System stärken.
Konsolidierungskonzepte fehlen

Vor diesem Hintergrund musste man sich verwundert die Augen reiben, als die mit erfahrenen Akteuren besetzte Arbeitsgruppe am 24. März 2025 ihre Ergebnisse vorlegte. Ihre Reformagenda war vollkommen aus der Zeit gefallen und hatte nicht die geringsten Chancen, so in den Koalitionsvertrag aufgenommen zu werden. Bei der Problemlösung im Gesundheitswesen konzentrierte sich die Gruppe ausschließlich auf zusätzliche Finanzspritzen für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung. Durch Finanzmittel des Bundes, wie etwa die Anhebung der Pauschalen für Bürgergeldempfänger, die Übernahme versicherungsfremder Leistungen und die Dynamisierung des Bundeszuschusses, sollte den zuletzt stark angestiegenen Beiträgen gegengesteuert werden. Die sachlich und ordnungspolitisch richtige Entlastung der beiden Sozialsysteme von versicherungsfremden Aufgaben haben die Verhandler – in Verkennung der tatsächlich vorhandenen finanziellen Spielräume – offenkundig als politisches Allheilmittel gesehen. Weitere Konsolidierungskonzepte, vor allem auf der Ausgabenseite, suchte man in dem Papier vergeblich. Statt durch gezielte Maßnahmen die wirtschaftliche und effiziente Ressourcenverwendung voranzubringen, sollten die zusätzlichen Finanzmittel mit der Gießkanne an die einzelnen Akteure im Gesundheitswesen verteilt werden. Frei nach dem Motto: Wer will nochmal, wer hat noch nicht?
Wunschliste ohne Bestand
Dabei sind die Rahmenbedingungen für die neue Regierung alles andere als rosig. Allen Beteiligten musste klar sein, dass die finanzpolitische Wunschliste, die im Jahr 2026 rund 21,5 Milliarden Euro zusätzliche Bundesmittel in das Gesundheitswesen gepumpt hätte, in der großen Verhandlungsrunde aus 19 Politikerinnen und Politikern von CDU, CSU und SPD in Konkurrenz zu den Finanzbedarfen anderer Arbeitsgruppen/Politikfelder steht und so nicht Bestand haben wird. Und genau so ist es gekommen: Bis auf die Übernahme des GKV-Finanzierungsteiles am Krankenhaustransformationsfonds in Höhe von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr hat keine Finanzzusage des Bundes die abschließende Verhandlungsrunde überlebt.
Bemerkenswert ist allerdings, dass es die große Verhandlungsgruppe nicht bei einer reinen Streichorgie belassen hat. Sie hat die Stabilisierung der Beitragssätze an die erste Stelle der Reformagenda gesetzt. Das ist eine deutliche Korrektur gegenüber den Vorarbeiten in der Arbeitsgruppe. Die Koalition hat nunmehr die nachhaltige Schließung der strukturellen Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen sowie die Dämpfung der Ausgabendynamik als übergeordnete gesundheitspolitische Ziele festgeschrieben. Sie setzt dafür auf ein Gesamtpaket aus strukturellen Anpassungen und kurzfristigen Maßnahmen. An diesen Zielen und Plänen muss sich die Koalition in den kommenden vier Jahren messen lassen.
System im Krisenmodus
Die finanzielle Lage ist sehr angespannt: Die Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind von 205,5 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 326,8 Milliarden Euro im Jahr 2024 gestiegen. Das entspricht einem Zuwachs von knapp 60 Prozent in zehn Jahren. Obwohl 2025 rund 60 Milliarden Euro mehr an Beitragsmitteln in das Gesundheitssystem geflossen sind als noch im Jahr 2021, kam es Anfang 2025 in der GKV zu einem historischen Beitragssatzsprung: Der tatsächlich von den Krankenkassen erhobene durchschnittliche Zusatzbeitrag ist um 1,21 Prozentpunkte auf 2,91 Prozent gestiegen.
Rund 345 Milliarden Euro stehen dem Gesundheitswesen im Jahr 2025 aus dem Topf der GKV zur Verfügung. Trotzdem befindet sich das System im dauerhaften Krisenmodus. Die Kosten steigen exponentiell, Versorgungsprobleme und Fachkräftemangel sind nach wie vor ungelöst. Setzt sich die Ausgabendynamik im laufenden Jahr fort, sind weitere Beitragssatzsteigerungen im Jahr 2026 und in den darauffolgenden Jahren unvermeidlich.
Den steigenden Ausgaben steht kein adäquater Mehrwert für die Versicherten und Beitragszahlenden gegenüber. Patientinnen und Patienten, pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige sind nach wie vor damit konfrontiert, dass die Qualität und der flächendeckende Zugang zu Gesundheits- und Pflegeangeboten unzureichend gewährleistet sind. Zu lange Wartezeiten auf Arzttermine, überlastete Notfallambulanzen sowie zu viele unnötige Behandlungen und Krankenhausaufenthalte sind weiterhin Alltag. Das führt zu steigender Frustration und Zweifeln an der politischen Problemlösungskompetenz – Wasser auf die Mühlen demokratiefeindlicher Kräfte.
Ausgabendynamik bremsen
Die Ziele stimmen, doch der Weg dorthin ist ungewiss, denn der Koalitionsvertrag offenbart diverse Schwächen. So baut Schwarz-Rot auf eine Erhöhung des Beschäftigungsniveaus. Das ist angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage aber eher unwahrscheinlich. Ohnehin würde sie nicht ausreichen, um die GKV-Beiträge langfristig zu stabilisieren. Letztlich bleibt entscheidend, ob die Koalition ihre Absichtserklärung zu mehr Effizienz auf der Ausgabenseite durch konkrete strukturelle Maßnahmen zügig untermauert. Daher ist es ein falsches Signal, dass eine Kommission erst im Jahr 2027 konkrete Vorschläge zur Stabilisierung der GKV-Beitragssätze vorlegen soll. Um der Ausgabendynamik entgegenzuwirken, müssen kurzfristig konkrete Schritte zur Reduzierung der Kosten eingeleitet werden. Entsprechende Vorschläge der Kostenträger liegen bereits vor. Schnelles Handeln, beispielsweise in Form eines Sofortprogrammes, ist noch in diesem Jahr gefragt.
Primärarztsystem etablieren
Ambitionierter und verbindlicher zeigt sich die schwarz-rote Koalition bei der Pflegeversicherung. Eine Bund-Länder-Expertengruppe unter Beteiligung der Kommunalen Spitzenverbände soll bis Ende 2025 Maßnahmen zur nachhaltigen Finanzierung der Pflegeversicherung sowie die Vorbereitung einer großen Pflegereform erarbeiten.
Ein echter Lichtblick ist die Ankündigung eines verbindlichen Primärarztsystems, um eine schnellere Terminvergabe sowie eine bedarfsgerechte Patientensteuerung zu ermöglichen. Die Einführung einer breiter aufgestellten, robusten Primärversorgung mit klaren Spielregeln für Patienten, Hausärzte und Fachärzte hat das Potenzial, schnell Erfolge bei den Bürgerinnen und Bürgern spürbar werden zu lassen. Bleibt die Koalition konsequent und mutig in der Umsetzung, werden Patienten künftig schneller und sicherer durch die Versorgung geleitet und das Praxispersonal kann effektiver zusammenarbeiten. Das führt zu einem effizienteren Einsatz der Beitragsgelder.
Dazu muss die hausärztliche Versorgung zur Primärversorgung weiterentwickelt werden. Das bedeutet, die Teams in den hausärztlichen Praxen unter Einbeziehung weiterer Gesundheitsberufe breiter aufzustellen. So kann die Ersteinschätzung besser und schneller funktionieren. Erforderlich sind dabei aufgrund der schon jetzt sehr unterschiedlichen Versorgungslagen in den Bundesländern Gestaltungsfreiräume für die regional Verantwortlichen. Damit einhergehen muss die Aufhebung der gesetzlichen Verpflichtung zum Abschluss von Verträgen zur hausarztzentrierten Versorgung, da dies dann nicht mehr notwendig ist. Die freiwillige Möglichkeit des Abschlusses sollte erhalten bleiben, um flexible, regionale Lösungen zu ermöglichen. Grundsätzlich sollte in der Versorgung wieder stärker auf sektorenübergreifende, dezentrale, an den regionalen Gegebenheiten orientierte Lösungen gesetzt werden. Es braucht mehr flexible und dezentrale Vertragsmöglichkeiten für die Beteiligten in den Regionen.
Positiv ist auch, dass die von der Vorgängerregierung nicht abgeschlossenen Reformen zur Neuaufstellung der Notfallversorgung und zur Modernisierung der Pflegeberufe zeitnah vollendet werden sollen. Die Umsetzung der Krankenhausreform soll ebenfalls weiter vorangetrieben werden. Verzögerungen oder Verwässerungen der Qualitätskriterien der Leistungsgruppen durch Ausnahmetatbestände dürfen nicht zugelassen werden. Kritisch ist auch, dass die positive Finanzwirkung der Reform durch die Ausweitung der Konvergenzphase verschoben wird. Planung und Finanzierung müssen weiterhin zusammenlaufen.
Arzneimittelversorgung gestalten
Das Problem der ungebremst steigenden Arzneipreise wird im Koalitionsvertrag komplett ausgespart. Dies ist fahrlässig. Nach einer Kostendämpfung um 1,3 Milliarden Euro 2023 durch den für ein Jahr erhöhten Herstellerabschlag stiegen die Arzneimittelausgaben auf zuletzt 50 Milliarden Euro. Sie liegen damit um 65 Prozent höher als noch vor zehn Jahren. Gab die GKV im Jahr 2013 rund 28 Milliarden Euro netto für Arzneimittel aus, konnte sie damit im Jahr 2023 nur noch den patentgeschützten Markt finanzieren – obwohl sich die Verordnungen patentgeschützter Arzneimittel in diesem Zeitraum in etwa halbiert haben.
Soll auch in Zukunft ein unmittelbarer und sicherer Zugang zu Arzneimitteln gewährleistet werden, müssen die Rahmenbedingungen für die Arzneimittelversorgung weiterentwickelt werden. Insbesondere ist es von Bedeutung, die Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu verbessern. Dabei ist den veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen und dem medizinischen Fortschritt Rechnung zu tragen. In Deutschland wird im weltweiten Vergleich schon heute ein sehr früher und direkter Zugang zu sicheren Arzneimitteln und neuen Therapieoptionen garantiert – ein Standard, den es zu erhalten gilt. Voraussetzung dafür ist, die Balance zwischen dem Zugang zu und der Bezahlbarkeit von medizinischen Innovationen zu finden.
Unverständlich ist es vor diesem Hintergrund, dass in der Apothekenversorgung die Ausgabenschleuse noch weiter geöffnet werden soll. Für die Sicherstellung der Versorgung durch die Apotheken ist eine Flexibilisierung der zeitlichen, räumlichen und organisatorischen Anforderungen notwendig, ergänzt durch mobile, dezentrale und digital unterstützte Angebote. Finanzielle Maßnahmen wie die pauschale Anhebung des Apothekenfixums, die zu Mehrkosten für die GKV führen, ohne die Versorgung zu verbessern, sind ein Anachronismus.
Die wirtschaftliche und zweckmäßige Verwendung von Beitragsgeldern ist eine Grundvoraussetzung für die langfristige Finanzierbarkeit der GKV. Die Belastung der Beitragszahlenden kann auf das erforderliche Maß nur begrenzt werden, wenn sich die Effizienz des Gesundheitswesens deutlich verbessert. Den Kompass dafür hat die Gesundheitspolitik der vergangenen Legislaturperioden aus den Augen verloren. Kaschiert mit Schlagworten wie Entökonomisierung oder Entbürokratisierung, hat die Politik die Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Verwendung von Beitragsmitteln verschlechtert. Der Koalitionsvertrag biegt hier wieder in die falsche Richtung ab. Er enthält eine Reihe von Vorhaben, die einer unwirtschaftlichen Mittelverwendung Vorschub leisten. Dazu gehören die Einführung einer Bagatellgrenze bei der Regressprüfung von Arztpraxen und die Senkung der Prüfquote bei Krankenhäusern. Eine schnelle Kurskorrektur ist notwendig, um den Anstieg der Versicherungsbeiträge und die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf Beitragszahlende und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts zu stoppen. Krankenkassen sind dem Wirtschaftlichkeitsgebot verpflichtet. Sie sollten in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe mit dem Instrument der Rechnungsprüfung erfüllen zu können.
Handlungsspielräume erhalten
Die im Koalitionsvertrag geplante gemeinsame Entwicklung von Vertrags- und Verwaltungsprozessen in der GKV gefährdet die Handlungsfähigkeit der Selbstverwaltung. Abhängig von der konkreten Ausgestaltung könnte eine weitere Reduzierung der Handlungsspielräume auf regionaler Ebene die Folge sein. Es droht der Weg in die Einheitskasse. Die geplante gemeinsame, kassenübergreifende Tarifentwicklung und Tarifpolitik ist systemfremd und unrealistisch. Das Vorhaben ist ein Eingriff in die Tarifautonomie von Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen bei den Krankenkassen.
Mit Blick auf die Prävention verliert sich der Koalitionsvertrag in Kleinteiligkeit. Der geplante Ausbau von nicht evidenzbasierter Vorsorge wird die Erwartungen nicht erfüllen und würde zulasten der Akutversorgung gehen.
Wir brauchen eine zielführende Verknüpfung von Verhältnis- und Verhaltensprävention, die Menschen in ihrer Gesundheitskompetenz stärkt. Als Basis für eine wirksame Verhältnisprävention sollte eine Public-Health-Strategie dienen, die gesundheitsförderliche Lebensverhältnisse zum Ziel hat. Daran zu koppeln sind wirksame Maßnahmen der Verhältnisprävention in Bezug auf Tabak, Alkohol und ungesunde Lebensmittel. Der Koalitionsvertrag verkennt die Relevanz der Vermeidung von nicht übertragbaren Krankheiten wie Adipositas, Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs für die langfristige Stabilisierung des Solidarsystems.
Die Probleme des deutschen Gesundheitswesens sind seit langem bekannt. Die neue Regierung sollte die Kraft und den Mut aufbringen, selbst für deren Lösung zu sorgen – und dies nicht in Kommissionen verlagern. Schwarz-Rot ist nun gefordert, die Fehler, Unklarheiten und Widersprüche des Koalitionsvertrags in der Umsetzung zu beseitigen. Am Ende der Wahlperiode muss ein besseres, aber nicht teureres Gesundheitssystem stehen.
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