„Leistungsbegrenzungen sind notwendig“
Britta Müller ist als brandenburgische Gesundheitsministerin zu einer wichtigen politischen Stimme in Deutschland geworden. Für das finanziell klamme Gesundheitswesen fordert die parteilose Politikerin ein radikales Umdenken.

Frau Ministerin Müller, die gesetzliche Krankenversicherung bildet mit ihrem Milliardendefizit eine Großbaustelle im Gesundheitswesen. Die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken will schnell Abhilfe schaffen. Was raten Sie?
Britta Müller: Die Beitragssätze können nicht unaufhaltsam steigen und es gibt Möglichkeiten, das zu verhindern. Allerdings müssen wir den Blick mehr als bisher auf die Ausgabenseite werfen und Leistungen begrenzen. Wenn im System Mittelknappheit herrscht, dann müssen wir uns auf das Bedarfsnotwendige konzentrieren. Wir leisten uns im Gesundheitssystem viele teure Dinge, etwa kostspielige Doppelstrukturen. Gerhard Schröder war mit der Agenda 2010 aus meiner Sicht der Letzte, der auf die Ausgabenseite geschaut hat. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass wir das Selbstverantwortungsprinzip wieder stärker in den Blick nehmen, denn dieses zählt neben dem Solidaritätsprinzip zu den Sozialstaatsprinzipien. Das bedeutet, dass jeder für die Erhaltung seiner Gesundheit auch selbst Verantwortung trägt.

Sie wollen also Kürzungen im Leistungskatalog?
Müller: Die begrenzten Ressourcen müssen bestmöglich verteilt beziehungsweise zugeteilt werden, um eine hohe Qualität und Quantität an Gesundheitsleistungen gewährleisten zu können. Es gibt gute – auch ethische – Argumente, die solidarisch finanzierten Gesundheitsausgaben zu begrenzen. Die Frage ist nicht, ob rationiert werden muss, sondern wie die unvermeidlichen Rationierungen in einer vertretbaren Art und Weise angegangen werden können.
Wie sollte mit versicherungsfremden Leistungen umgegangen werden?
Müller: Es darf nicht sein, dass Beitragsgelder zur Finanzierung sozialversicherungsfremder Leistungen verwendet werden. Das gilt für die GKV wie für die soziale Pflegeversicherung. Die Pauschalen für die Bürgergeldempfänger müssen ausgabendeckend sein. Was dort bislang gezahlt wird, ist bei weitem nicht auskömmlich. Und in der Pflege denke ich an die Rettungsschirme während der Corona-Zeit, die aus der Pflegeversicherung bezahlt worden sind. Diese sechs bis sieben Milliarden Euro müssen in die Pflegekasse zurück fließen.
Muss es bei der Pflege ebenfalls Einschnitte geben?
Müller: Die Zahl der Pflegebedürftigen nimmt exponentiell zu, mehr als es der Demografie entspricht. Hier würde ich mir wünschen, dass die neue Bundesregierung die eingesetzten Instrumente, von der Begutachtung bis zur Feststellung der Bedürftigkeit oder des Bedarfs, auf den Prüfstand stellt und evaluiert. Ursprüngliches Ziel bei Einführung der sozialen Pflegeversicherung war es, schwerstpflegebedürftige Menschen vor finanzieller Überforderung zu schützen. Inzwischen sind immer neue Leistungen hinzu gekommen, und der Pflegebedürftigkeitsbegriff wurde erweitert. Wenn wir knappe Ressourcen haben, müssen wir uns auf das konzentrieren, was unbedingt notwendig ist. In der Pflege sind damit die schwerstpflegebedürftigen Menschen gemeint. Aus meiner Sicht muss die soziale Pflegeversicherung neu ausgerichtet werden.

Was heißt das konkret?
Müller: Es besteht ein strukturelles Problem. Wir müssen uns etwa fragen, warum die Pflege so teuer geworden ist in den vergangenen Jahren. Das hat unter anderem mit der gesetzlich eingeführten Tariftreue zu tun. Es ist zwar richtig, dass wir in der Pflege eine gute Bezahlung haben. Aber die Gehälter steigen Jahr für Jahr und damit die Kosten in den Heimen. Hier brauchen wir ein Moratorium. Wir sind in der Pflege auf einem guten Verdienstniveau angekommen, das andere Berufsgruppen längst in den Schatten stellt. Auch ist es aus meiner Sicht nicht richtig, eine Berufsgruppe zu privilegieren. Wenn diese Spirale unendlich fortgesetzt wird, brauchen wir uns nicht über eine Deckelung von Leistungen zu unterhalten.
Wollen Sie auch mehr Steuermittel in der Pflege?
Müller: Der jährliche Bundeszuschuss von mindestens einer Milliarde Euro muss wieder gezahlt werden. Dieser wurde ab 2024 gestrichen und soll nun bis einschließlich 2027 ausgesetzt werden. Dieser Zuschuss ist dringend notwendig um die Liquidität der sozialen Pflegeversicherung zu gewährleisten. Dramatisch finde ich vor allen Dingen, dass die vorherige Bundesregierung den Pflegevorsorgefonds ausgesetzt hat. Er soll ja Leistungen für spätere Generationen sicherstellen. Das ist durch das unachtsame Agieren der Ampel-Regierung für die Babyboomer-Generation nun nicht mehr gewährleistet.
Sollen die Pflegebedürftigen mit den rasant steigenden Eigenanteilen im Heim alleine gelassen werden?
Müller: Nein. Es muss hierfür das Geld, das im System ist, zielgerichteter eingesetzt werden. Die Pflegeversicherung folgt zurecht dem Teilkaskoprinzip. Leistungen werden in den einzelnen Pflegegraden nur bis zu einem bestimmten Anteil übernommen. Wenn jetzt viele fordern, dass die Pflege zu einem Vollkaskosystem werden soll, dann geht das an der Realität vorbei. Wir sind momentan bei einem Beitragssatz von 3,6 Prozent – bei Kinderlosen von 4,2 Prozent. Bei einem Vollkaskoschutz könnten wir bei Größenordnungen wie in der GKV, nämlich bei rund 18 Prozent ankommen. Die Sozialabgaben insgesamt würden dann 50 Prozent oder mehr erreichen.
„Bei Ressourcenknappheit müssen wir die Mittel zielgerichtet einsetzen.“
Ministerin für Gesundheit und Soziales in Brandenburg
Zunehmend ist von Patientensteuerung die Rede. Die Koalition im Bund plant ein Primärarztsystem. Wie sehen sie das?
Müller: Für Brandenburg, aber auch andere Flächenländer, wird ein solches System nicht funktionieren. Schon heute versorgen die niedergelassenen Hausärzte in Brandenburg zehn bis 15 Prozent mehr Patienten als der Bundesdurchschnitt. Hinzu kommt, dass 30 Prozent der Hausärzte bereits heute 60 Jahre und älter sind und somit in den kommenden Jahren ihre Praxis aufgeben. Auch öffnet sich die Schere zwischen den Städten und dem ländlichen Raum weiter – regionale Disparitäten verstärken sich. Unterversorgung droht und mit dem steigenden Patientenalter nehmen die Arztbesuche zu. Das Primärarztsystem ist also keine Lösung für ein Land mit Hausärztemangel. Hier wird der Hausarzt zum Flaschenhals. In Brandenburg brauchen wir andere Lösungen – stambulante. Das bedeutet mehr Zusammenarbeit und Kooperation zwischen ambulant und stationär. Wir können die Versorgung nicht eindimensional betrachten – unser Blick richtet sich daher auf alle Versorgungsbereiche. Wir benötigen neue Instrumente, wie zum Beispiel institutionelle Ermächtigungen für Klinikärzte, ambulant zu versorgen. Hierfür brauchen wir dann eine Budgetbereinigung, um diese neue Leistungsart entsprechend zu vergüten.
Brauchen wir außer mehr Selbstverantwortung auch mehr Präventionsmaßnahmen, um Krankheiten zu vermeiden?
Müller: Wir haben rund 330 Milliarden Euro Gesamtausgaben der GKV, doch davon sind 2023 gerade mal rund drei Prozent in die Prävention geflossen. Das ist eindeutig zu wenig. Hausärzte müssen zudem besser vergütet werden, wenn sie Patienten zu einem gesundheitsbewussten Verhalten animieren. Wichtig ist, Risikofaktoren früh zu erkennen und dort gezielt mit Programmen und Maßnahmen anzusetzen. Der Fokus muss sein: Wo können wir eine Krankheit oder die Verschlechterung eines Gesundheitszustandes verhindern und dadurch auch Kosten senken?
Zur Klinikreform: Sie haben versprochen, dass in Brandenburg alle Klinikstandorte erhalten bleiben. An mehr Spezialisierung führt ja wohl kein Weg vorbei …
Müller: In unserem Koalitionsvertrag steht, dass wir alle Krankenhausstandorte als Orte der regionalen Gesundheitsversorgung erhalten wollen. Wir sagen nicht, dass alles so bleiben soll wie es ist. Wir wollen die Ambulantisierung deutlich vorantreiben, gerade in den ländlichen Räumen. Das theoretische Potenzial dafür liegt laut unseren Analysen bei 25 bis 30 Prozent. Zugleich wird es eine Konzentration von Leistungen geben. Hochkomplexe Eingriffe werden künftig von wenigen spezialisierten Kliniken vorgenommen.
Und in der Fläche gibt es Medizinische Versorgungszentren?
Müller: Genau. Sie sollen die Grundversorgung sicherstellen, aber auch verstärkt den Blick auf die Pflege richten. Die Betten der bisherigen Regelversorger werden genutzt für die Kurzzeitpflege und als Belegbetten für das ambulante Operieren. Es muss so sein, dass Patienten morgens kommen und abends wieder gehen können. An jedem Standort soll es zudem eine Notfallstruktur mit 24-stündiger Erreichbarkeit geben. Schwere Fälle, wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle, werden weitergeleitet an die dafür spezialisierten Kliniken.
Warum halten Sie so vehement an den Standorten fest?
Müller: Mir ist wichtig, dass es eine Versorgung in der Fläche gibt. Also alle Menschen müssen medizinische und pflegerische Angebote erreichen können. Es soll aber nicht mehr überall Gelegenheitsmedizin stattfinden. Und zudem hatten wir in Brandenburg schon eine große Strukturbereinigung nach der Wiedervereinigung in den 90er-Jahren. Damals gab es bei uns mehr als 70 Krankenhäuser, heute sind es 56. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern hat bei uns also bereits eine starke Reduktion stattgefunden. Die verbliebenen Standorte sind unbedingt notwendig. Aber sie müssen sich ändern, denn auch der Bedarf hat sich geändert – hin zu mehr Älteren, weniger Jüngeren und mehr geriatrischen Patienten.

Sie hatten ja bei der Krankenhausreform gefordert, dass der Transformationsfonds nicht der GKV übergestülpt wird. Jetzt übernimmt der Bund den Anteil. Ist damit alles paletti?
Müller: Nein, es gibt da noch einiges auf unserer Liste. Vor allem besorgt uns die schlechte Finanzsituation der Krankenhäuser. Viele Kliniken schreiben Defizite. Wir machen uns daher für eine Überbrückungsfinanzierung stark, bis die Finanzierungsreform vollständig greift. Außerdem fehlt der Inflationsausgleich für die Jahre 2022 und 2023. Ich freue mich, dass unser Vorstoß zu diesen beiden Punkten in der Länderkammer eine Mehrheit gefunden hat. Die Bundesregierung wird darin aufgefordert, zeitnah Vorschläge vorzulegen. Wünschenswert wäre ein Sonderzuschuss aus Steuermitteln, damit das nicht bei den Krankenkassen und somit bei den Beitragszahlern hängen bleibt.
Wie wichtig ist es Ihnen, dass die Notfallreform kommt?
Müller: Das ist absolut wichtig und gehört aus meiner Sicht zu den Aufgaben in den ersten 100 Tagen der Bundesregierung. Die Strukturen von Rettungsdienst und Notfallversorgung müssen angepasst werden. Es muss Schnittstellen geben, um die Zusammenarbeit zu erleichtern. Der Beratungsprozess war in der vergangenen Legislaturperiode ja sehr weit fortgeschritten und die Vorlagen sind da. Ich gehe mal davon aus, dass die CDU hier worttreu bleibt und das umsetzt.
Es fehlt in Deutschland an medizinischem und pflegerischem Personal. Schon jetzt kommt fast jede fünfte Pflegekraft aus dem Ausland. Gleiches gilt für rund 15 Prozent der Ärzte. Was ist zu tun?
Müller: Der Fachkräftemangel stellt eine große Herausforderung für die Patientenversorgung dar. Für bessere Arbeitsbedingungen ist ein Abbau unnötiger Bürokratie notwendig, um Personal zu entlasten und mehr Zeit für die Patientenversorgung zu schaffen. Zudem muss die Digitalisierung vorangetrieben werden, müssen Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Beruf sowie zum lebensphasengerechten Arbeiten umgesetzt werden. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir in Brandenburg die Ausbildungskapazitäten für junge Ärztinnen und Ärzten deutlich ausbauen. Aber ohne eine gezielte Zuwanderung werden wir diese Herausforderung nicht bewältigen können. Es braucht ein gemeinsames gesellschaftliches Verständnis dafür, dass Fachkräfte aus dem Ausland nicht nur notwendig, sondern eine große Chance für die Zukunft unseres Gesundheitssystems sind. Wir haben bei uns zum Beispiel das erfolgreiche Modellprogramm „National Matching Brandenburg“. Ziel ist es, Geflüchtete und Zugewanderte mit Gesundheitsberufen als Fachkräfte an Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen zu vermitteln.
Nochmal zum Bund: Ist die schwarz-rote Regierung mit ihrem Koalitionsvertrag im Gesundheitssektor mit seinen vielen Baustellen auf dem richtigen Weg?
Müller: Ich erkenne leider kein bisschen Ehrgeiz. Union und SPD haben zwar die Absicht, die strukturelle Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schließen und die unkontrolliert steigenden Ausgaben zu stoppen, aber es finden sich im Vertrag keine Lösungen. Die Koalitionäre verschieben ihre Arbeit auf Kommissionen. Das Gesundheitssystem braucht aber heute Antworten. Und es braucht zudem Mut, auch unbequeme Entscheidungen zu fassen.
Zur Person
Britta Müller ist seit Dezember 2024 Ministerin für Gesundheit und Soziales in Brandenburg. Die 53-Jährige ist seit ihrem Austritt aus der SPD im vergangenen Jahr parteilos. Für ihr Amt wurde sie vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) nominiert. Davor war Müller Leiterin der Pflegekasse der AOK Sachsen-Anhalt und von 2014 bis 2019 gehörte sie als gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion in Potsdam an. Die aus Eberswalde-Finow stammende Gesundheitswissenschaftlerin und Gerontologin war in verschiedenen Funktionen im Gesundheitswesen tätig, unter anderem in der Brandenburg Klinik.
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