„Es wachsen mehr als genug Mediziner nach“
Warum die Teilzeitquote nicht der alleinige Grund für Terminengpässe und Zeitmangel ist, erläutert Prof. Dr. Ferdinand Gerlach im Interview mit Jörn Hons.
Ein Drittel aller ambulant behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten arbeitet aktuell in Teilzeit. Hat Sie die stark gestiegene Teilzeitquote überrascht?
Ferdinand Gerlach: Nein, gar nicht. Die Teilzeitquote ist stark gestiegen, genauso wie die Zahl der angestellten Ärzte. Blickt man 30 Jahre zurück, hat sich die Zahl der berufstätigen Ärzte in Deutschland – also inklusive der Klinikärzte – bis heute auf 429.000 fast verdoppelt. Und damals hat man in der Politik, das vergessen manche, von einer „Ärzteschwemme“ gesprochen.
Ein Ärztemangel ist also nicht die Ursache für die Terminnot – aber vielleicht ein Arztzeit-Mangel durch die hohe Teilzeitquote?
Gerlach: Allein die Tatsache, dass Privatpatienten nahezu jederzeit Termine bekommen, zeigt, dass die erhöhte Teilzeitquote nicht der einzige Grund für durchaus reale Engpässe sein kann. Praxen sind oft schlicht mit Patienten verstopft, die dort nicht hingehören. So wird viel Arztzeit für zweifelhafte individuelle Gesundheitsleistungen oder für Früherkennungs-Untersuchungen mit unklarer Wirksamkeit aufgewendet, nicht zuletzt, weil diese extra-budgetär abgerechnet werden können. Hinzu kommen Bürokratie und Fehlanreize im Abrechnungssystem – etwa die mengensteigernde Quartalslogik oder die fehlende Vergütung von Team-Leistungen. Den Praxisteams fehlt so die Zeit für chronisch Kranke, für schwierige Patienten, für Behandlungen, für die man einfach etwas länger braucht.
Ist die Entscheidung für Teilzeitarbeit eine Reaktion auf die Anforderungen in der Praxis oder eine bewusste Entscheidung für eine bessere Work-Life-Balance?
Gerlach: Es ist beides. Wie auch Kliniken sind deutsche Arztpraxen Hamsterräder, die hochtourig drehen. Ein Hausarzt hat durchschnittlich 250 Patientenkontakte in der Woche und nur 9,1 Minuten pro Patient. In Schweden sieht ein Hausarzt etwa 50 Patienten pro Woche und hat für jeden über 28 Minuten Zeit. Dort werden aber viele Leistungen im Team erbracht, zum Beispiel von Physiotherapeuten, Versorgungsassistentinnen, Physician Assistants und Pflegekräften. Früher waren Ärztinnen und Ärzte in Deutschland trotz Familie bereit, sehr viel zu arbeiten. Dieses Konzept hat sich erheblich verändert. Junge Ärztinnen und Ärzte können heute erfolgreich fordern, nur an zwei oder drei Tagen in der Woche zu arbeiten.
Eine oft gehörte Forderung ist, die Zahl der Medizinstudienplätze zu erhöhen, um einem Ärztemangel zu begegnen. Macht das vor diesem Hintergrund Sinn?
Gerlach: Diese Forderung ist unreflektiert, falsch, teuer und kontraproduktiv. Auf keinen Fall dürfen wir die Zahl der Medizinstudienplätze erhöhen, sie sind zuletzt ohnehin schon um mehrere tausend gestiegen. Es haben noch nie so viele Deutsche Medizin an staatlichen, privaten und ausländischen Universitäten studiert wie derzeit. Häufig zu hörende Argumente, etwa der anstehende Ruhestand der Baby-Boomer-Ärzte, für die es ja nicht mehr Studienplätze gab, würde die Versorgung gefährden, sind logisch und faktisch falsch. Wir haben genug Mediziner, die nachwachsen. Wenn wir ohne bedarfsgerechte Steuerung noch mehr Ärzte ausbilden, erzeugen wir über 30 bis 40 Jahre eine fatale Überversorgung mit angebotsgetriebenen Leistungen.
Mitwirkende des Beitrags
Autor
Datenschutzhinweis
Ihr Beitrag wird vor der Veröffentlichung von der Redaktion auf anstößige Inhalte überprüft. Wir verarbeiten und nutzen Ihren Namen und Ihren Kommentar ausschließlich für die Anzeige Ihres Beitrags. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht, sondern lediglich für eventuelle Rückfragen an Sie im Rahmen der Freischaltung Ihres Kommentars verwendet. Die E-Mail-Adresse wird nach 60 Tagen gelöscht und maximal vier Wochen später aus dem Backup entfernt.
Allgemeine Informationen zur Datenverarbeitung und zu Ihren Betroffenenrechten und Beschwerdemöglichkeiten finden Sie unter https://www.aok.de/pp/datenschutzrechte. Bei Fragen wenden Sie sich an den AOK-Bundesverband, Rosenthaler Str. 31, 10178 Berlin oder an unseren Datenschutzbeauftragten über das Kontaktformular.