Interview Prävention

„Innovative Interventionen gezielt weiterentwickeln“

21.05.2025 Silke Heller-Jung 4 Min. Lesedauer

In der Rubrik „Neues aus der Uni“ stellt G+G-Digital Institute und Lehrstühle vor. Dieses Mal mit drei Fragen an Prof. Dr. Sebastian Kohlmann, Inhaber der Professur für Psychosomatische Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg.

Foto: Blick in einen Hörsaal, in dem viele Studierende sitzen. Vorne steht ein Mikrofon.
In der Rubrik „Neues aus der Uni“ stellt G+G jeden Monat ein Institut oder einen Lehrstuhl vor.
Portraitfoto: Sebastian Kohlmann, Professor für Psychosomatische Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg
Prof. Dr. Sebastian Kohlmann ist Professor für Psychosomatische Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg.

Herr Professor Kohlmann, was ist derzeit Ihre wichtigste wissenschaftliche Fragestellung?

Prof. Dr. Sebastian Kohlmann: Meine Forschungseinheit beschäftigt sich mit der zentralen Frage, wie Menschen mit psychischen Erkrankungen, die bislang nicht in Versorgung sind, möglichst frühzeitig identifiziert werden und Zugang zu evidenzbasierter Behandlung erhalten können. Diese Fragestellung ist von großer Relevanz, da trotz eines gut ausgebauten Versorgungssystems viele Betroffene keine adäquate Hilfe erhalten.

In früheren Projekten habe ich in randomisiert-kontrollierten Studien untersucht, ob niedrigschwellige Interventionen die Früherkennung von Menschen mit depressiven Störungen verbessern können. Dabei wurden Interventionen direkt im Versorgungskontext hinsichtlich ihrer Wirksamkeit getestet. Solche Studien sind jedoch sehr ressourcenintensiv, und es ist oft schwierig, den potenziellen Effekt einer Intervention im Vorfeld realistisch abzuschätzen. Zudem bleibt häufig unklar, an welcher Stelle im Versorgungspfad ein gezielter Eingriff den größten Nutzen entfalten würde. Deshalb verfolgt mein Team aktuell einen neuen, strategischen Ansatz: Wir entwickeln Simulationsmodelle, um Versorgungsprozesse abzubilden und Versorgungslücken systematisch zu quantifizieren. Auf dieser Basis lassen sich zentrale Parameter schätzen – etwa die durchschnittliche Dauer von der Erstmanifestation einer depressiven Störung bis zum Beginn einer evidenzbasierten Behandlung oder der Punkt im Versorgungspfad, an dem die meisten Betroffenen „verloren gehen“. Mithilfe dieser Modelle können wir die potenziellen Effekte innovativer Interventionen bereits im Vorfeld besser prognostizieren und gezielter weiterentwickeln, bevor sie in aufwändigen Studien getestet werden.

Wie fördern Sie an Ihrer Einrichtung die Kooperation wissenschaftlicher Disziplinen und die Netzwerkbildung?

Kohlmann: Interdisziplinäre Kooperation ist in der Versorgungsforschung von zentraler Bedeutung, um Versorgungsprozesse aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven zu beleuchten und gemeinsam tragfähige Lösungen zu entwickeln, die sowohl Betroffene als auch Behandelnde aktiv einbeziehen. Das Universitätsklinikum Heidelberg bietet dafür ideale Voraussetzungen – insbesondere durch die Verankerung meines Lehrstuhls an der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, die eine enge Vernetzung zwischen somatischen und psychischen Fachrichtungen ermöglicht.

Derzeit initiiere ich den Aufbau eines Netzwerks zur Harmonisierung methodischer Ansätze in der Versorgungsforschung im Bereich psychischer Gesundheit. Ziel ist es, Versorgungsdaten zu psychischen Erkrankungen und deren Behandlung besser zugänglich, vergleichbar und für unterschiedliche Fachdisziplinen nutzbar zu machen. In diesem Vorhaben werde ich von Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fachrichtungen unterstützt – darunter Public Health, Gesundheitsökonomie, Psychiatrie und Klinische Psychologie. Diese enge Zusammenarbeit ist essenziell, um wissenschaftliche Synergien zu schaffen und nachhaltige Strukturen interdisziplinärer Versorgungsforschung aufzubauen.  

„Wissenschaft liefert die evidenzbasierte Grundlage, auf der nachhaltige und verantwortungsvolle politische Entscheidungen getroffen werden können. “

Prof. Dr. Sebastian Kohlmann

Professor für Psychosomatische Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg

Zur Person:

Prof. Dr. Sebastian Kohlmann studierte Psychologie an der Philipps-Universität Marburg, der University of Auckland/Neuseeland und am Kings’s College London. An der Universität Bern erwarb er einen Master in Advanced Studies in Psychotherapy. Nach Stationen an den Universitätskliniken Würzburg und Hamburg-Eppendorf und der Approbation als Psychologischer Psychotherapeut übernahm Kohlmann 2024 den Lehrstuhl für Psychosomatische Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg.

Ist die Politik gut beraten, wenn sie auf die Wissenschaft hört?

Kohlmann: Unbedingt. Wissenschaft liefert die evidenzbasierte Grundlage, auf der nachhaltige und verantwortungsvolle politische Entscheidungen getroffen werden können. Die Herausforderung liegt darin, dass wissenschaftliche Erkenntnisse selten einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen bieten. Vielmehr sind sie oft differenziert und müssen vor dem Hintergrund der zu beantwortenden Fragestellung kontextualisiert und eingeordnet werden – gerade das macht ihre sachgerechte Einbindung in politische Prozesse und die Kommunikation abgeleiteter Maßnahmen so anspruchsvoll. Wo jedoch wissenschaftlicher Konsens besteht, sollte dieser ein starkes Gewicht in politischen Entscheidungsprozessen haben.

In meinem Forschungsfeld zeigt die aktuelle Evidenzlage, dass etwa die Hälfte der Menschen mit psychischen Erkrankungen keinen Zugang zu adäquater Versorgung erhält – und nur ein Bruchteil eine evidenzbasierte Behandlung. Die Gründe dafür sind vielfältig, und es bedarf gezielter Forschung, um wirksame Interventionsstrategien zu entwickeln. Mein Ziel ist es, mit meinem Team wissenschaftliche Grundlagen zu erarbeiten, die politische Entscheidungsträger dabei unterstützen, strukturelle Verbesserungen in der Versorgung psychischer Gesundheit evidenzbasiert und wirksam umzusetzen.

Lehrstuhl für Psychosomatische Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg

Forschungsschwerpunkte:

  • Früherkennung von psychischen Erkrankungen
  • Patient and Public Involvement bei der Entwicklung von versorgungsnahen Interventionen
  • Simulationsstudien zur Abbildung von Versorgungsprozessen

Jahresetat:

Keine Angabe

Zahl und Qualifikation der Mitarbeitenden:

  • 1 Postdoc
  • 2 Doktoranden
  • 1 wissenschaftliche Referentin
  • Studentische Hilfskräfte

Kontaktdaten:

Universitätsklinikum Heidelberg
Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik
Im Neuenheimer Feld 410
69120 Heidelberg
Telefon: 06221 56-8774
E-Mail

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