Artikel Versorgung

Recht: Hochrisikoschwangerschaft ist in Fachklinik zu behandeln

21.05.2025 Christina Bethke-Meltendorf 5 Min. Lesedauer

Die Versorgung einer schwangeren Hochrisikopatientin in einem Krankenhaus ohne neonatologische Intensivstation ist ein grober Behandlungsfehler.

Symbolbild eines Paragraphenzeichen, das auf einem geöffneten Buch steht

Jede Schwangerschaft und Geburt birgt ein gewisses Risiko. Wenn bestimmte Bedingungen die Wahrscheinlichkeit für Komplikationen erhöhen, sprechen Mediziner von einer Risikoschwangerschaft. Um bei einer Risikoschwangerschaft und bei der Geburt gesundheitliche Gefahren für Mutter und Kind möglichst gering zu halten, müssen Krankenhäuser für Komplikationen eingerichtet sein. Wesentliche Qualitätsmerkmale der geburtshilflichen Betreuung sind die vorgehaltene Ausstattung und Struktur – etwa die Verfügbarkeit von Pädiatrie mit neonatologischer Versorgungskompetenz am Standort – sowie die Qualifikation und Anzahl des geburtshilflichen Personals. Fehlen solche Qualitätsmerkmale, liegt dann im Falle von Geburtsschäden ein Behandlungsfehler vor? Und steht dem Geschädigten Schmerzensgeld zu? Über diese Fragen hatte das Oberlandesgericht (OLG) zu entscheiden. 

Urteil vom 18. Februar 2025 (Oberlandesgericht Frankfurt/Main)

8 U 8/21

Schwere Hirnschäden

In dem Fall ging es um ein mit schweren Behinderungen geborenes Kind. Seine Mutter – selbst Fachärztin für Gynäkologie – war mit 37 Jahren erstmals schwanger. Es handelte sich um eine hochriskante eineiige Zwillingsschwangerschaft. Die Frau war über Wochen von dem beklagten Arzt in der mitverklagten Geburtsklinik stationär behandelt worden. Die Klinik verfügte über kein Perinatalzentrum. Eines Tages hatte sich das typische Risiko der Schwangerschaft realisiert, und einer der beiden Feten verstarb im Mutterleib. Das andere Kind – der spätere Kläger – wurde dann mit Notkaiserschnitt zur Welt geholt, erlitt aber schwere Hirnschäden.

Die Beklagten verteidigten sich unter anderem mit dem Argument, dass die Behandlung der fachkundigen Mutter auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin im beklagten Krankenhaus stattgefunden habe. Ihr sei bekannt gewesen, dass dort kein Perinatalzentrum vorhanden war. Zudem habe die Frau entgegen dem Rat der Beklagten das Krankenhaus mehrfach übers Wochenende verlassen und dadurch auch einen entscheidenden Kon-trolltermin versäumt. Das Landgericht entschied auf der Basis eines Sachverständigengutachtens zugunsten des Klägers und sprach ihm Schmerzensgeld in Höhe von 720.000 Euro zu. Gegen dieses Urteil legten die Beklagten Revision beim OLG ein – ohne Erfolg.

„Das Oberlandesgericht hat die Revision nicht zugelassen. Arzt und Klinik können aber eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof einlegen.“

Christina Bethke-Meltendorf

Syndikusrechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes

Fehlerhaftes Gesamtkonzept

Arzt und Klinik seien für den äußerst schlechten Gesundheitszustand des Klägers verantwortlich. Ihnen seien nach dem Sachverständigengutachten nicht nur mehrere Befunderhebungsfehler unterlaufen, unter anderem sei ein fetofetales Transfusionssyndrom (FFTS), das vermutlich zum Tod des einen Zwillings führte, nicht erkannt worden. Grob fehlerhaft sei auch das medizinische Gesamtkonzept der Beklagten. Die Mutter habe ausschließlich in einer Klinik behandelt werden dürfen, die eine neonatologische Intensivstation habe. Denn bei einer Hochrisikoschwangerschaft mit eineiigen Zwillingen könne es jederzeit zu einer Frühgeburt oder zu schweren Komplikationen bis hin zum Fruchttod eines Fetus kommen. Dies mache eine sofortige Entbindung und Notfallbehandlung erforderlich. Eine angemessene Behandlung könnten aber nur neonatologische Fachärzte mit entsprechender Ausstattung gewährleisten. Die Entscheidung der Behandler, die Patientin nicht in ein Perinatalzentrum erster Ordnung zu verlegen, sei grob behandlungsfehlerhaft. Ein grober Behandlungsfehler liege dann vor, wenn ein Arzt gegen bewährte medizinische Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoße und einen Fehler begehe, der aus objektiver Sicht nicht verständlich erscheint, weil er einem Behandler nicht unterlaufen dürfe. Daher greife zugunsten des Klägers eine Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden. 

Foto: Grafik – Perinatalzentren: Die Mehrheit erfüllt die Anforderungen

Auch ließ das OLG die Argumentation der Beklagten nicht gelten, die Mutter des Klägers habe durch ihr eigenes unvernünftiges Verhalten zu dem Verlauf beigetragen. Die Weigerung einer Patientin, eine Behandlungsempfehlung zu befolgen, sei rechtlich nur zu beachten, wenn der Arzt auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit hingewiesen habe. Sei eine akute Gefährdung des Fetus zu befürchten, müsse er dies deutlich kommunizieren. Dies sei aber nicht dokumentiert. Auch komme ein Mitverschulden allein wegen der beruflichen Qualifikation der Mutter nicht in Betracht.

Die auf die Fehlbehandlung zurückzuführenden schweren Hirnschäden des Klägers hätten gravierende Folgen. Der Kläger leide unter anderem an einer ausgeprägten Entwicklungsstörung, sei blind und habe eine starke Hörschwäche. Seine Schluckfähigkeit sei ebenso gestört wie die Kon­trolle seiner Blase. Die erlittenen schwersten Schäden rechtfertigten 720.000 Euro Schmerzensgeld.

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