Artikel Gesundheitssystem

Gesundheitssystem in Not

20.03.2024 Thorsten Severin 8 Min. Lesedauer

Zerstörte Kliniken, tausende Verwundete und Defizite bei der Behandlung von Krankheiten: Der seit zwei Jahren andauernde Krieg Russlands gegen die Ukraine hat für das Gesundheitswesen des Landes schwerwiegende Folgen. Doch komplett am Boden liegt die medizinische Versorgung nicht, auch dank deutscher Hilfe.

Foto des zerbombten Entbindungsheimes und des anliegende Krankenhauses der ostukrainischen Stadt Selydowe in der Region Donezk
Das Entbindungsheim und das anliegende Krankenhaus der ostukrainischen Stadt Selydowe in der Region Donezk wurden durch russischen Beschuss im Februar dieses Jahres zerstört. Es gab mehrere Tote und Verletzte.

Mehr als 1.600 Gesundheitseinrichtungen wurden seit Beginn des Krieges im Februar 2022 zerstört. Rund 140 von ihnen gelten als so demoliert, dass sie nicht mehr zu retten sind. Und dass in einem Land, wo täglich Soldaten und Zivilisten sterben oder schwer verletzt werden. Die jährliche Amputationsrate stieg durch den Konflikt von 30.000 auf mehr als 100.000. „Der Zugang zur Gesundheitsversorgung im Land ist stark beeinträchtigt durch Sicherheitsbedenken, eingeschränkte Mobilität, gestörte Lieferketten und die Vertreibung von Menschen“, berichtet Christof Johnen, Leiter Internationale Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz (DRK). Nicht nur, dass es viele Verletzte gibt, auch könnten bestehende Krankheiten oft nicht mehr ausreichend versorgt werden. Die Ukraine habe beispielsweise ohnehin eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten in Europa.

Glücklicherweise ist es Russlands Machthaber Wladimir Putin bislang aber nicht gelungen, die medizinische Versorgung in der Ukraine zum Erliegen zu bringen. „Das ukrainische Gesundheitssystem hat seit Tag eins des barbarischen russischen Angriffskriegs eine große Widerstandsfähigkeit gezeigt“, sagt der deutsche Gesundheits-Staatssekretär Dr. Thomas Steffen zu G+G. Trotz gezielter Angriffe auf Kliniken und medizinisches Personal bleibe die gesundheitliche Versorgung „weitestgehend funktionsfähig“. In Kriegszeiten sei das eine herausragende Leistung. „Deutschland steht dabei unverrückbar solidarisch an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer“, betont Steffen.

Ukrainehilfe „so lange wie nötig“

Foto zeigt ukrainische Soldaten, die im Kampf Gliedmaßen verloren haben, beim Training auf Matten in einem Rehazentrum
Ukrainische Soldaten, die im Kampf Gliedmaßen verloren haben, trainieren in einem Rehazentrum in Lwiw.

Dass die Unterstützung dringend notwendig ist, machte der ukrainische Gesundheitsminister Viktor Liashko bei einem Berlinbesuch im Februar deutlich. Die deutschen Partner beschwor er: „Bitte bleiben Sie nicht stehen. Machen Sie weiter, solange Putins Regime nicht fällt!“ Die Covid-19-Pandemie und erst recht der großangelegte Krieg hätten seinem Land die Bedeutung internationaler medizinischer Partnerschaften klar vor Augen geführt. Kein Gesundheitssystem könne derartige Herausforderungen allein bewältigen, so Liashko.
 
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist nach Angaben beider Seiten zum wichtigsten europäischen Ansprechpartner für seinen ukrainischen Amtskollegen in diesem Konflikt geworden. Lauterbach wird entsprechend nicht müde zu betonen, dass Deutschland die Unterstützung für die Ukraine „so lange wie nötig“ fortführen werde. Erst Anfang Februar vereinbarten beide Länder eine engere Zusammenarbeit im Gesundheitswesen und in der Pflege.

Deutschland ist zweitstärkster Geldgeber

Bislang sind laut Bundesregierung von Deutschland Unterstützungsgelder an das osteuropäische Land in Höhe von 32,3 Milliarden Euro geflossen, darunter mehr als 100 Millionen Euro für das Gesundheitssystem. Die Bundesrepublik ist damit der zweitstärkste Geldgeber nach den USA. Was die konkrete medizinische Hilfe anbelangt, so wurden nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums bereits rund 1.000 Schwerverletzte nach Deutschland transportiert und in Spezialkliniken behandelt. Dabei handelte es sich um Menschen mit schlimmsten Verbrennungen, Verstümmelungen oder schweren Infektionen. Kein anderes Land in Europa hat so viele Verwundete aufgenommen.
 
Die Bundesrepublik leistet zudem humanitäre Hilfe und fördert die vor Ort tätigen Hilfsorganisationen sowie einzelne Projekte. Hinzu kommt die Unterstützung bei Reparatur, Ausstattung und der energetischen Sanierung von Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen. Zur Verbesserung der medizinischen Versorgung werden Medikamente und  Hilfsgüter wie Schutzanzüge, Beatmungsgeräte oder Monitore ins Krisengebiet geliefert. Auch unterstützt das deutsche Gesundheitsministerium gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt die Ukraine vor Ort bei der Herstellung von Prothesen für Erwachsene und Kinder. Schon 2022 eröffnete Lauterbach dazu eine Werkstatt in Lwiw. Außerdem werden ukrainische Gesundheitsfachkräfte in Deutschland darin geschult, Brandopfern zu helfen.

Besonders wichtig ist es der Bundesregierung, Expertenwissen im Bereich der mentalen Gesundheit zur Verfügung zu stellen. Nur selten sind Ukrainerinnen und Ukrainer wegen psychischer Leiden oder Kriegstraumata in psychologischer Behandlung, wie Auswertungen zeigen. Vor allem die Kinder in dem kriegsgebeutelten Land bereiten Expertinnen und Experten große Sorgen. „Viele von ihnen kennen keine normale Kindheit mehr“, sagte Lauterbach in einer Rede. Zugleich dankte der Minister und Mediziner der Ukraine, dass sie unter anderem durch eine Initiative von Präsidentengattin Olena Selenska der seelischen Gesundheit einen hohen Stellenwert einräume. Das sei in einem laufenden kriegerischen Konflikt eher ungewöhnlich.

Hilfe per Telemedizin

Foto einer Ärztin, die in einem Krankenzimmer einen Mann mit Kopfverletzung behandelt
In Pokrowskoje behandelt eine Ärztin die Kopfverletzung eines Soldaten. Das kleine Krankenhaus kümmert sich, wie andere seiner Größe, um die Erstversorgung der verletzten Kämpfer. Anschließend werden sie in größere Kliniken verlegt.

Seit einiger Zeit erfolgreich läuft die Unterstützung per Telemedizin bei der Behandlung von Schwerverletzten. Deutsche Kliniken bringen dabei online ihre Expertise ein und helfen so den ukrainischen Ärztinnen und Ärzten. Der Wissenstransfer findet unter anderem im Rahmen des im März 2023 gegründeten deutsch-ukrainischen Gesundheitsnetzwerks „Solomiya“ statt, das kontinuierlich erweitert wird. Die Klinikpartner arbeiten vor allem in den Bereichen Notfallmedizin, psychische Gesundheit und Traumatologie zusammen. Mit von der Partie sind von deutscher Seite unter anderem die Berliner Charité und die Kliniken der gesetzlichen Unfallversicherung.

Wie viele Deutsche vor Ort im Kriegsgebiet als Gesundheitspersonal tätig sind, weiß das Bundesgesundheitsministerium nach eigenen Angaben nicht. Die Bundesärztekammer hatte im März 2022 ein Registrierungsportal für Mediziner eingerichtet, die in der Ukraine oder einem Nachbarstaat im Rahmen internationaler humanitärer Einsätze medizinisch helfen wollen. Laut einem Sprecher haben sich rund 1.300 Ärztinnen und Ärzte dort registriert. Zu privaten Hilfseinsätzen von Medizinern aus Deutschland gebe es aber keine Zahlen.

Um die Hilfe auf europäischer Ebene zu koordinieren, wird das EU-Katastrophenschutzverfahren UCPM (EU Civil Protection Mechanism) genutzt. Daran nehmen die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie neun Nicht-EU-Länder teil. Allerdings gibt es auch bilaterale Unterstützungsersuche, die die Ukraine gezielt an einzelne Länder oder Stellen richtet, wie das BMG erläutert. Außerdem wurde unter der deutschen G7-Präsidentschaft im Dezember 2022 eine Geberplattform beschlossen (MDCP), an der sich die EU, die G7-Staaten sowie Partner aus internationalen Finanzinstitutionen beteiligen.

Foto von Rettungskräften beim zerbombten Krankenhaus Wilnjansk
Die russischen Angriffe haben schwere Verwüstungen an Gesundheitseinrichtungen hinterlassen, wie hier am Krankenhaus Wilnjansk. Das Gebäude wurde samt Geburtsstation von einer Rakete getroffen. Ein Säugling starb.

Zur Bestandsaufnahme der Hilfe von deutscher Seite gehört auch, dass hierzulande seit Kriegsbeginn mehr als eine Million Geflüchtete aufgenommen wurde. Sie erhalten die gleiche Gesundheitsversorgung wie alle anderen Bürger. Insgesamt haben Schätzungen zufolge mehr als sechs Millionen Menschen aus der Ukraine das Land verlassen und im Ausland Zuflucht gefunden.

Für Lauterbach ist die Unterstützung der Ukraine, so auch für eine dort geplante Gesundheitsreform, nicht zuletzt mit Blick auf die angepeilte EU-Mitgliedschaft des Landes von großer Bedeutung. Ein gutes Gesundheitssystem sei eine Voraussetzung für den Beitritt. Der „mörderische Krieg“ dürfe die Ukraine auf keinen Fall an der Erfüllung dieser Auflagen hindern, betonte der SPD-Politiker.
 
Dass sich die Bundesregierung von den europäischen Partnern mitunter etwas mehr Engagement wünscht, wurde im Februar in Äußerungen von Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) deutlich. Mit Blick auf die bevorstehende Wiederaufbaukonferenz im Juni in Berlin sagte sie, es müssten noch mehr Mittel für die Ukraine gesammelt werden. Deutschland und die USA leisteten eine ganze Menge. „Das reicht aber nicht. Wir brauchen noch mehr europäische Unterstützung“, so die Ministerin. Es werde zudem darum gehen, mehr privates Kapital zu mobilisieren, denn auch die Wirtschaft könne helfen. Insgesamt werden die Kosten für den Wiederaufbau im Bereich Gesundheit schon jetzt auf mehr als 16 Milliarden Euro geschätzt.
 
Internationale Organisationen wie das Rote Kreuz mahnen dazu, in den Anstrengungen auf keinen Fall nachzulassen. „Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine darf nicht aus dem Fokus geraten, weil dort Millionen von Menschen dringend humanitäre Hilfe benötigen“, so DRK-Experte Johnen. Die Unterstützung lokaler Organisationen wie dem Ukrainischen Roten Kreuz müsse weiter bestehen bleiben.

Mitwirkende des Beitrags

Beitrag kommentieren

Alle Felder sind Pflichtfelder.

Datenschutzhinweis

Ihr Beitrag wird vor der Veröffentlichung von der Redaktion auf anstößige Inhalte überprüft. Wir verarbeiten und nutzen Ihren Namen und Ihren Kommentar ausschließlich für die Anzeige Ihres Beitrags. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht, sondern lediglich für eventuelle Rückfragen an Sie im Rahmen der Freischaltung Ihres Kommentars verwendet. Die E-Mail-Adresse wird nach 60 Tagen gelöscht und maximal vier Wochen später aus dem Backup entfernt.

Allgemeine Informationen zur Datenverarbeitung und zu Ihren Betroffenenrechten und Beschwerdemöglichkeiten finden Sie unter https://www.aok.de/pp/datenschutzrechte. Bei Fragen wenden Sie sich an den AOK-Bundesverband, Rosenthaler Str. 31, 10178 Berlin oder an unseren Datenschutzbeauftragten über das Kontaktformular.