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Recht: Belastungsgrenze für Pflegeheimbewohner geklärt

19.02.2024 Anja Mertens 5 Min. Lesedauer

Krankenkassen dürfen Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen mit Zuzahlungen nicht über Gebühr belasten.

Symbolbild eines Paragraphenzeichen, das auf einem geöffneten Buch steht

Beschluss vom 22. September 2023

– 1 BvR 422/23 –
Bundesverfassungsgericht

Gesetzlich Krankenversicherte müssen zu vielen Krankenkassenleistungen wie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel, Krankenhausaufenthalt oder Rehabilitationsmaßnahmen Zuzahlungen leisten. Um sie finanziell nicht zu überfordern, gibt es eine gesetzlich festgelegte Belastungsgrenze. Deren Höhe beläuft sich auf zwei Prozent des jährlichen Bruttoeinkommens. Für chronisch Kranke liegt die Belastungs­grenze bei einem Prozent.
 
Geringere Zuzahlungen gelten für Bezieherinnen und Bezieher von Sozialleistungen. Begünstigt sind ferner Versicherte, bei denen ein Träger der Sozialhilfe oder der Kriegsopferfürsorge die Kosten der Unterbringung in einem Pflege­heim oder einer ähnlichen Einrichtung trägt. Deren Belastungsgrenze richtet sich nicht nach dem Bruttoeinkommen, sondern nach einem gesetzlich festgelegten Pauschalbetrag, dem sogenannten Regelbedarf (Paragraf 28 SGB XII), der in sechs Stufen unterteilt ist. Für Alleinstehende (Regelbedarfsstufe 1) liegt der Betrag in diesem Jahr bei 563 Euro monatlich. 2023 waren es 502 Euro und 449 Euro im Jahr 2022. Doch welche Belastungsgrenze ist wann anzusetzen? Das hat nun das Bundesverfassungsgericht klargestellt.

Belastungsgrenze zu hoch

In dem Streitfall ging es um eine 1938 geborene, chronisch kranke Frau, die seit dem Jahr 2021 im Pflegeheim lebt. Entsprechend ihrem Pflegegrad erhielt sie für die Heimkosten pauschale Leistungen der Pflegekasse. Da diese Leistungen zusammen mit ihrer Rente in Höhe von 1.100,37 Euro monatlich nicht für die Heimkosten ausreichten, erhielt sie zusätzlich Sozial­hilfe als Hilfe zur Pflege.

Der Sozialhilfeträger setzte den monatlichen Eigenanteil für die Heimkosten auf 956,45 Euro fest. Den Rest übernahm er. Die Krankenkasse legte auf Basis der Renteneinkünfte eine Belastungs­grenze für die Zuzahlungen mit 132,04 Euro für das Jahr 2022 fest.

Klage gegen Kassenbescheid

Foto einer alten Dame im Rollstuhl in einem Pflegeheim
Um Pflegeheimbewohner finanziell nicht zu überfordern, ist die Belastungsgrenze gesetzlich vorgegeben.

Dagegen legte die Pflegeheim­bewohnerin Widerspruch ein. Wäre statt ihrer Rente der Regelsatz der Regelbedarfsstufe 1 angesetzt worden (449 Euro monatlich), dürfe ihre Belastungsgrenze lediglich 53,88 Euro betragen. Nachdem die Kasse den Widerspruch abgelehnt hatte, klagte sie vor dem Sozialgericht (SG).

Doch das Gericht wies ihre Klage zurück. In ihrem Fall sei die Ausnahmevorschrift des Paragrafen 62 Absatz 2 Satz 5 Nummer 2 Sozialgesetzbuch (SGB) V nicht anwendbar. Die Norm sehe vor, dass Versichterte, bei denen die Kosten der Unterbringung in einem Heim ein Sozialhilfeträger übernehme, die Zuzahlungen nach der Regelbedarfsstufe 1 reduziert festgesetzt würden. Dies setze allerdings voraus, dass auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung nach den Regeln der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII übernommen würden.

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Willkürverbot verletzt

Gegen diese Entscheidung reichte die Frau Verfassungsbeschwerde in Karlruhe ein und hatte Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht hob sie auf und verwies den Fall an das SG zurück. Die Entscheidung verletze das Willkürverbot nach Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Annahme, Paragraf 62 Absatz 2 SGB V setze eine ­Kostenübernahme für Unterkunft und Verpflegung voraus, entbehre „jeder nachvollziehbaren Grundlage“. Eine derartige Auslegung der Vorschrift sei weder mit ihrem Wortlaut noch mit ihrer Systematik vereinbar. Die Regelung ver­lange nur, dass der Sozialhilfeträger die Kosten der Unterbringung des Versicherten in einem Heim oder einer anderen Einrichtung zu tragen habe. Für weitere Bedingungen gebe es – anders als von Kasse und Sozialgericht angenommen – keine Anhaltspunkte.

„Versicherte, die ihre Rente für Heimkosten fast komplett einsetzen und Hilfe zur Pflege erhalten, stehen finanziell nicht besser da als Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt. Sie sind bei der Berechnung der Belastungsgrenze gleich zu behandeln.“

Anja Mertens

Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes

Rechtsnorm falsch ausgelegt

Paragraf 62 Absatz 2 SGB V nur dann anzuwenden, wenn die im Heim untergebrachten Versicherten auch Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII bezögen, hätte zur Folge, dass der Regelung keine eigenständige Bedeutung zukomme. Denn ein Versicherter, der Hilfe zum Lebensunterhalt erhalte, werde bereits von Absatz 1 der SGB-V-Norm erfasst. Nach der Gesetzessystematik stelle Paragraf 62 Absatz 2 SGB V eine Sonderregelung gerade für jene Versicherten dar, die keine Leistungen nach dem SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter, bei Erwerbsminderung) beziehen, aber wegen der Heimunterbringung bedürftig seien und deshalb Anspruch auf Leistungen des Sozialhilfeträgers wie Hilfe zur Pflege hätten. Auch widerspreche die vom SG vorgenommene – aber nicht weiter begründete – Einengung der Voraussetzungen der gesetzgeberischen Konzeption, neben Bezieherinnen und Beziehern von Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung einen eigenständigen Ausnahmetat­bestand für die gleichfalls einkommensschwache Personengruppe der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen zu schaffen.
 
Nun muss das SG erneut über den Fall entscheiden und die Belastungsgrenze für die Frau anders ermitteln als bisher.

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