Ein Turbo für die Digitalisierung des Gesundheitswesens  

Schnelle Umsetzung des „Digitalpakets“ des BMG erforderlich

01.11.2023 | In seinem Positionspapier vom 13. Juli 2022 forderte der wissenschaftliche Beirat der AOK Nordost: Gesundheitsdatennutzung: jetzt! Gesundheitsdaten seien eine unverzichtbare Grundlage für ein funktionierendes Gesundheitssystem, zutreffende Diagnosen, zielführende Therapien und insbesondere für die medizinische Forschung. Eine erweiterte Nutzung von Gesundheitsdaten könne ein dynamisch lernendes Gesundheitssystem bzw. ein Echtzeitgesundheitssystem ermöglichen. Der Regierungsentwurf für ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz vom 30. August 2023 greift diese Forderungen auf und zielt in die richtige Richtung. Er lässt aber noch Fragen offen.

1. Seitdem die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) das allgemeine Datenschutzrecht in der Europäischen Union bestimmt, reißt die Diskussion nicht ab, wie sehr „der Datenschutz“ (genauer: die Aufsichtspraxis der Aufsichtsbehörden) eine sinnvolle, auch grundrechtlich gebotene Datennutzung hemmt. Die europäische Antwort hierauf liefern der Daten-Governance-Rechtsakt und künftig das EU-Datengesetz, die die Bereitstellung, das Teilen und die Nutzung von Daten adressieren und in der Gesamtschau eine Datenverkehrsordnung bilden, welche in Art. 1 Abs. 2 DSGVO zwar bereits angedacht, bislang aber kaum gelebt wurde. Ergänzt wird diese Regulierung durch die Schaffung von interoperablen gemeinsamen Datenräumen, in denen europäische Daten aus Schlüsselsektoren zusammengeführt werden, etwa dem Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS).

2. Um eine optimale Datennutzung zu fördern, bedarf es flankierender Rechtsgrundlagen auf nationaler Ebene, wie sie nun mit dem Gesetz zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten (Gesundheitsdatennutzungsgesetz, GDNG) geschaffen werden sollen. Der vom Bundeskabinett am 30. August 2023 gebilligte Entwurf dient nicht nur der Anbindung des deutschen Gesundheitswesens an den EHDS. Er setzt auch ein klares Signal zur gemeinwohlorientierten Nutzung von Gesundheitsdaten und zur datenbasierten Weiterentwicklung des Gesundheitswesens; dies adressiert sowohl die Forschungseinrichtungen als auch die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen (§ 1 Abs. 1 GDNG). Der wissenschaftliche Beirat begrüßt diesen längst überfälligen Paradigmenwechsel, der wegführt von einem einseitig verstandenen Datenschutzrecht, hin zu einem konstruktiv-abwägenden Datenrecht, in dem neben dem Datenschutz auch der Lebens- und Gesundheitsschutz ein angemessenes Gewicht erhält.

a) Das zeigt sich etwa bei der Verknüpfung der pseudonymisierten Daten des Forschungsdatenzentrums Gesundheit mit den pseudonymisierten Daten der klinischen Krebsregister der Länder. So ist nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 GDNG die Genehmigung zur Datenverknüpfung zu erteilen, wenn „schutzwürdige Interessen der betroffenen Person nicht beeinträchtigt werden oder das öffentliche Interesse an der Forschung das Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Person überwiegt und das spezifische Re-Identifikationsrisiko in Bezug auf die beantragten Daten bewertet und unter angemessener Wahrung des angestrebten wissenschaftlichen Nutzens durch geeignete Maßnahmen minimiert worden ist.“ Der Gesetzgeber erkennt die möglicherweise konfligierenden Interessen, regelt aber statt eines Verbots eine Risiko- und Interessenabwägung, die eine sinnvolle Gesundheitsdatennutzung ermöglicht.

b) Ebenso zu begrüßen ist die Ermächtigung zur Weiterverarbeitung von Versorgungsdaten, soweit dies zur Qualitätssicherung, zur Förderung der Patientensicherheit oder zur medizinischen, zur rehabilitativen und zur pflegerischen Forschung erforderlich ist (§ 6 Abs. 1 GDNG). Auch hier zeigt sich, dass das europäische Datenschutzrecht die Verarbeitung und Nutzung selbst sensibler Daten zulässt, wenn die Verarbeitung für die Gesundheitsvorsorge erforderlich ist und der Gesetzgeber das entsprechende öffentliche Interesse erkennt und normiert (Art. 9 Abs. 2 lit. h DSGVO). Den legitimen Geheimhaltungsinteressen wird durch Geheimhaltungspflichten (§ 7 GDNG) und Strafvorschriften (§ 9 GDNG) ausreichend Rechnung getragen.

c) Nicht ganz glücklich ist dagegen die Neuregelung des § 25b SGB V. Zwar ist es zu begrüßen, dass danach die Kranken- und Pflegekassen datengestützte Auswertungen zum Gesundheitsschutz eines Versicherten vornehmen können, um diesen etwa auf Risiken im Kontext seltener Erkrankungen, Krebserkrankungen oder ähnlich schwerwiegender Gesundheitsgefährdungen hinzuweisen – stets mit der Empfehlung, ärztliche Beratung in Anspruch zu nehmen. Unklar bleibt unterdessen, wie betroffene Menschen mit einer solchen, mitunter sehr belastenden Information umgehen werden, die bei aller Vorsicht in der Formulierung doch als bedrohliche Diagnose wahrgenommen werden könnte. Die Übermittlung einer solchen Diagnose sollte besonders geschulten Ärztinnen und Ärzten vorbehalten bleiben. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Versicherten der zugrundeliegenden Datenverarbeitung vorab widersprechen könnten („Recht auf Nichtwissen“), worauf sie auch ausdrücklich hinzuweisen sind (§ 25b Abs. 3 SGB V). Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass viele Menschen bis zum Erhalt derartiger Informationen gravierende gesundheitliche Veränderungen nicht wahrnehmen, entsprechende Risiken also ignorieren, bis plötzlich entsprechende Hinweise auftauchen. Es ist deshalb wünschenswert, dass der Gesetzgeber auch diese Situation überdenkt und das Verfahren der Weitergabe des Risikoprofils sensibler gestaltet. Denkbar wäre etwa, dass die Versicherten solche Informationen nur über den Hausarzt erhalten, es sei denn, sie haben nach reiflicher Überlegung einer direkten Übermittlung ausdrücklich zugestimmt. Dies lässt sich in den ohnehin erforderlichen Informationsprozess integrieren.

3. Gemeinsam mit dem Entwurf für ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz hat das Bundeskabinett am 30. August 2023 auch den Entwurf für ein Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz, DigiG) vorgelegt, das insbesondere die Umsetzung der elektronischen Patientenakte (ePA) beschleunigen soll. Außerdem sollen das E-Rezept, digitale Anwendungen zur Gesundheitsvorsorge und telemedizinische Behandlungen etabliert werden. Der wissenschaftliche Beirat begrüßt diese Regulierung, zumal sie Forderungen aufgreift, die er seit Jahren erhebt.

a) Das betrifft insbesondere die Umstellung auf eine „Opt-out-Lösung“ für die ePA, weil das Herzstück der gesamten Telematikinfrastruktur des digitalen Gesundheitswesens nur auf diese Weise flächendeckend etabliert werden kann. Viele Nachbarländer haben dies erfolgreich vorgemacht. Es liegt nahe, dass die Akzeptanz der EPA sehr stark von ihrem Komfort abhängig sein wird, der erst durch ihre Nutzung vollständig begreifbar wird.

b) Weitere Regelungen gilt es in der nun anstehenden parlamentarischen Behandlung nachzuschärfen: So ist vorgesehen, dass die Krankenkassen ihre Versicherten bei der „Befüllung“ der ePA unterstützen, wenn diese sich hilfesuchend an sie wenden (§ 350a SGB V). Dies ist insofern systemwidrig, als die Krankenkassen eigentlich Abrechnungsdaten zu verarbeiten haben, aber keine Kenntnis von Behandlungs- oder Gesundheitsdaten erlangen sollten. Auch wenn sich die Ärzteschaft aus Kapazitätsgründen verständlicherweise gegen diese zusätzliche Aufgabe wehrt: sie steht strukturell diesem Thema näher und sollte diesen Verarbeitungsschritt auch positiv sehen, weil zum Beispiel die Hausärzte dadurch ein noch besseres Bild von ihren Patienten erhalten können.

c) Was die digitalen Anwendungen („Gesundheitsapps“) betrifft, erinnert der Beirat an seine früheren befürwortenden Stellungnahmen, die allerdings stets von der Forderung nach angemessener Qualitätssicherung und sinnvoller Finanzierung begleitet waren.

d) Schließlich begrüßt der Beirat die Regulierung telemedizinischer Behandlungen. Seit der richtigerweise bereits vor der Pandemie erfolgten Aufhebung des Fernbehandlungsverbots erleben wir einen Trend, „das Beste aus beiden Welten“ zu verbinden: effiziente digitale Angebote und persönliche Betreuung in der Arztpraxis. Hierzu zählen u.a. Videosprechstunden. Diese sollten aber nicht unbegrenzt angeboten werden, um insbesondere dem „Ausbluten“ ländlicher Arztpraxen entgegenzuwirken. Sollte es im Extremfall weitestgehend ortsunabhängige Behandlungsangebote geben, wäre eine sinnvolle regionale Verteilung von Arztpraxen gefährdet, obwohl es zahlreiche Behandlungsbedarfe gibt, denen eine rein digitale Versorgung nicht gerecht wird. Der Kabinettsentwurf überlässt deshalb die konkrete Ausgestaltung und die Festlegung der Videosprechstunde zu Recht dem Bewertungsausschuss (§ 87 Abs. 2n SGB V).

4. Keine Frage: Das Gesundheitswesen zählt zu jenen Bereichen, in denen der Bedarf an digitalen Strukturen und Lösungen besonders groß ist, was inzwischen auch die Politik erkannt hat. Dass dies vielleicht zehn Jahre früher hätte geschehen können, soll nicht davon abhalten, dem Turbogang, den das Bundesgesundheitsministerium nun mit mit dem„Digital-Paket“ einlegt, die zum Wohle aller so dringend benötigte Schubkraft zu wünschen. Weitere Verzögerungen werden sich weitaus negativer auswirken, als dies vor zehn oder zwanzig Jahren noch der Fall war. Hier sei nur an die Dynamik des Einsatzes generativer KI erinnert, auf die der Beirat in seinem Positionspapier im Juli 2023 hingewiesen hat. Die erheblichen Chancen des Einsatzes künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen, die soeben auch die Weltgesundheitsorganisation herausgestellt hat, können sich nicht entfalten, wenn nicht einmal die rechtlichen, technischen und organisatorischen Grundlagen der Telematikinfrastruktur sicher gestaltet sind. Die im vorliegenden Positionspapier angeregten Verbesserungen dienen daher zwar der Optimierung einer ebenso strategisch notwendigen wie sinnvollen Reform, sollen aber keineswegs als grundlegende Kritikpunkte missverstanden werden, die weitere Verzögerungen des Digitalisierungsprozesses bewirken. Ein „Mehr“ ist immer und auch später möglich, ein „Weniger“ wäre in der jetzigen Situation fatal.