Gesundheitsdatennutzung: jetzt!

Vertrauen stärken, Lösungen umsetzen

Positionspapier des Wissenschaftlichen Beirates für Digitale Transformation

Berlin, 07.07.2022 | Die Diskussion um das geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz ändert den Blickwinkel auf die Datenverarbeitung in einem zunehmend digitalisierten Gesundheitswesen. Praktisch alle Akteure – von den Leistungserbringern über die Leistungsträger bis zu den betroffenen Patientinnen und Patienten – befürworten eine verstärkte und verbesserte Nutzung der nunmehr erleichtert zugänglichen Gesundheitsdaten. Dass dieser Paradigmenwechsel gleichwohl seit Jahren und wohl auch in nächster Zeit viel zu schleppend verläuft, hängt mit verbleibenden Ängsten und Bedenken zusammen, die lösungsorientiert auszuräumen sind.


Daten können Leben retten. Allemal sind sie eine unverzichtbare Grundlage für ein funktionierendes Gesundheitssystem, für präzise Prävention, zutreffende Diagnosen und zielführende Therapien, kluge Nachsorge, für private und öffentliche Gesundheitsvorsorge, und besonders für die medizinische Forschung. Auch wenn das Gesundheitswesen (voll-)digitalisiert ist: Es wird kaum einen Mehrwert haben, wenn die notwendigen Gesundheitsdaten nicht verfügbar sind oder nicht genutzt werden können oder dürfen. Die Hauptbetroffenen, nämlich die Patientinnen und Patienten, sprechen sich so stark wie nie zuvor für die Gesundheitsdatennutzung aus, wie der Self Tracking Report 2022 von EPatient Analytics belegt: Danach befürworteten 80 % der Befragten die Nutzung ihrer Patientendaten in einer nationalen Forschungsdatenbank. 75 % wünschen sich individuelle Präventionsangebote ihrer Krankenkassen auf der Basis ihrer persönlichen Gesundheitsdaten, für die es eine Schnittstelle zwischen Smartphone und elektronischer Patientenakte (ePA) geben solle. Fast all diese Personen wären auch einverstanden, dass sie auf Basis der ePA digital informiert würden, wenn sich eine Untersuchungsnotwendigkeit ergibt.

Es ist deshalb zu begrüßen, dass der politische Wille in diese Richtung gelenkt wird. So soll nach dem Koalitionsvertrag der Ampelkoalition (Dezember 2021) der Erlass eines „Gesundheitsdatennutzungsgesetzes zur besseren wissenschaftlichen Nutzung in Einklang mit der DSGVO auf den Weg“ gebracht und eine „dezentrale Forschungsdateninfrastruktur“ aufgebaut werden. Viele Stakeholder aus dem Gesundheitswesen greifen dies mittlerweile auf und erstellen Forderungskataloge. Ziel der notwendigen Digitalisierung und erweiterten Nutzung von Gesundheitsdaten solle ein „dynamisch lernendes Gesundheitssystem“ sein; zuweilen wird auch von einem „Echtzeitgesundheitssystem“ gesprochen. Im Mittelpunkt steht weiterhin die ePA, die für alle Versicherten mit freiwilliger Nutzung weiterentwickelt werden soll. Auch der Deutsche Ärztetag hat sich am 27.5.2022 für eine Opt-out-Regelung (Widerspruchslösung) ausgesprochen.

Der wissenschaftliche Beirat für digitale Transformation der AOK Nordost schließt sich diesem Verständnis und den Forderungen im Wesentlichen an, weist aber auch auf das Folgende hin: Obwohl es so viele, überzeugende Gründe für eine optimierte Erfassung und systematische, nicht nur sporadische Nutzung von Gesundheitsdaten gibt und dies sowohl dem Patientenwohl als auch der Funktionsfähigkeit und Verbesserung des Gesundheitssystems im Allgemeinen dient, sind wir noch weit von den Verhältnissen entfernt, die aktuell wieder einmal eingefordert werden. An wen man die Forderung auch immer adressiert bzw. an wen man appelliert: die Gesetzgeber, die Ministerien, die Aufsichtsbehörden, die Softwareentwickler, die Leistungserbringer, die Leistungsträger oder auch die Versicherten – man rennt überall offene Türen ein und kommt doch keinen Schritt weiter. Wer wollte auch widersprechen, wenn eine datenschutzkonforme (!) Nutzung von Gesundheitsdaten für eine bessere (!) Gesundheitsvorsorge gefordert wird?

Solche Appelle alleine fruchten nicht. Um den gewünschten Erfolg zu erzielen, müssen sie begleitet werden von einer breit angelegten Ursachenforschung, warum auch im Jahr 2022 immer noch Gesundheitsdatennutzung und ein entsprechendes Gesetz gefordert werden, statt diese Daten längst einfach zu erfassen, bereitzustellen und zu nutzen. Was hindert die Verantwortlichen, das dringend Notwendige einfach zu tun?

„Der Datenschutz“ hindert – vielen Unkenrufen zum Trotz – jedenfalls nicht prinzipiell, weil auch die aktuelle Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) viele Möglichkeiten zur Datennutzung und auch spezielle Privilegien für Forschungszwecke bietet. Man muss davon nur Gebrauch machen. Hier wäre es hilfreich, wenn die Datenschutzaufsichtsbehörden ihren Beratungsauftrag auch in Richtung einer gezielten Unterstützung der Datennutzung lenken würden. So ist zum Beispiel die ePA eine unverzichtbare Grundlage der Gesundheitsdatennutzung. Der Beirat hat hierauf in früheren Positionspapieren hingewiesen.

Die gegenüber verstärkter Gesundheitsdatennutzung geäußerten Bedenken und Sorgen greifen zu kurz: Die Vorteile sind herausragend und überwiegen etwaige Risiken deutlich.

Den berechtigten Interessen zur Wahrung der Intimsphäre und der Persönlichkeitsrechte kann durch entsprechende Gestaltung der Datenverarbeitung, etwa durch Anonymisierung, Verschlüsselung und strenge Datenzugriffskonzepte Rechnung getragen werden. Die Datenqualität lässt sich verbessern, indem man eine breitere Datenbasis schafft und die Datenauswertung systematisch verbessert. Die auch von der Datenethikkommission befürworteten Datenspenden werden besser angenommen, wenn über deren Zwecke gut informiert und Missbrauch streng unterbunden wird. Soweit befürchtet wird, dass jene Personen, die Daten nicht bereitstellen wollen oder können, diskriminiert werden, etwa durch tarifliche Nachteile, kann dem gesetzlich begegnet werden. Die Bereitschaft zur Mitwirkung an diesem lernenden Gesundheitssystem wird durch vertrauensbildende Maßnahmen gestärkt.

Insgesamt müssen sämtliche Datenflüsse verständlich erklärt und vielfach auch in die Hände der Betroffenen gegeben werden. Hierzu könnte das Datencockpit, das die Datenstrategie der Bundesregierung für Datenverarbeitung in der Verwaltung ins Spiel gebracht hat, Einzug in die Telematikinfrastruktur halten. Danach könnten alle Patienten auf einen Blick nachvollziehen, wo ihre Daten gespeichert sind und welche Person oder Institution wann und in welchem Kontext auf die Gesundheitsdaten zugegriffen haben. Dies ließe sich etwa durch eine dezentrale Verwaltung der Zugriffsberechtigungen besonders vertrauenswürdig und effektiv bewerkstelligen. Ebenso müsste sichergestellt werden, dass mehr Transparenz in der Patientenakte nicht zu einer Dauerbeobachtung der Ärztinnen und Ärzte führt. Umgekehrt gilt es, den  Leistungserbringern zu vermitteln, welche großen Vorteile gut verfügbare, digital verwertbare Informationen auch Ihnen in ihrer täglichen Arbeit bringen. Über entsprechende Datendashboards bekommen diese zugleich ein Feedback über Behandlungserfolge und optimierte Diagnosen und Therapien. 

In diesem Sinne sollte das Gesundheitsdatennutzungsgesetz über die Zielsetzung der Formulierung im Koalitionsvertrag zur wissenschaftlichen Nutzung von Gesundheitsdaten hinaus weitere Regelungen aufnehmen, die das Vertrauen der Akteure in das digitale Gesundheitswesen stärken. Zusätzlich sollten die Möglichkeiten genutzt werden, in der Gesundheitspraxis Bedenken der Betroffenen immer wieder aufzugreifen und auszuräumen. Hier ist auch Kreativität der Leistungserbringer und Leistungsträger gefragt. Je besser ein System funktioniert, um so größer sind Akzeptanz und Vertrauen seiner Nutzer. Dazu zählt auch die Nutzerfreundlichkeit, wie sie etwa das Bayerische Digitalgesetz für künftige digitale Verwaltungsanwendungen vorschreibt. IT muss für alle Akteure (hier sowohl auf ärztlicher als auch auf Patientenseite sowie in den entsprechenden Verwaltungseinrichtungen) jederzeit verständlich und handhabbar sein. Wie das geht: dazu befragt man besser die betroffenen Menschen statt externe Gremien. 

Dies wiederum kann parallel zur Entwicklung des Europäischen Gesundheitsdatenraums (Verordnungsvorschlag der EU-Kommission vom 3.5. 2022 -COM(2022) 197 final) Impulse geben. Länder wie Finnland und Estland zeigen, wie eine konstruktive Datenverwertung auch im Gesundheitswesen hohen Nutzen, Akzeptanz und Zufriedenheit stiftet. 

Das alles muss schnellstmöglich, also jetzt geschehen. Jedes Zuwarten der notwendigen und auch technisch möglichen Modernisierung des Gesundheitswesens kostet Opfer. Ein „lernendes“ digitales Gesundheitswesen verträgt auch seinen baldigen Start mit (hinnehmbaren) Schwächen, die alsdann sukzessive ausgeräumt werden. Würden wir in „typisch deutscher“ Tradition Perfektion anstreben, würden wir zugleich viele Chancen zur Optimierung der Gesundheitsvorsorge verpassen. Das ist dann tatsächlich ethisch bedenklich und vor dem Hintergrund der staatlichen Pflicht zum Schutz von Leben und Gesundheit auch verfassungsrechtlich fragwürdig. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz könnte in diesem Sinne zur praktischen Konkordanz von Datenschutz und Gesundheitsschutz beitragen.

Mitglieder des Beirats sind

-  Prof. Dr. Dirk Heckmann (Geschäftsführer)
-  Dipl.-Pol. Inga Bergen (Sprecherin)

-  Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
-  Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
-  Prof. Dr. Stefan Heinemann
-  Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
-  Prof. Dr. Anne Paschke
-  Dipl.-Psych. Marina Weisband