Artikel Versorgung

Am Ende in der Grauzone

13.06.2025 Frank Brunner 5 Min. Lesedauer

Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid und dem gescheiterten Versuch, die Vorgaben in ein Gesetz zu überführen, müssen Kliniken und Pflegeeinrichtungen selbst klären, welche Unterstützung sie im Sterbeprozess anbieten. Teilnehmer einer Konferenz der Evangelischen Akademie zu Berlin diskutierten über aktuelle Konzepte in ihren Einrichtungen.

Menschen haben ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Doch Sterbeassistenz ist ein hochkomplexes und rechtlich nicht vollständig geregeltes Thema.

Gleich zu Beginn der Konferenz berichtet Dr. Matthias Gockel von zwei seiner Patienten und Patientinnen. Gockel, Facharzt für Innere Medizin am Sana Klinikum Lichtenberg in Berlin, spezialisiert auf Palliativmedizin, ist einer der Teilnehmer der Fachkonferenz „Anfragen zur Suizidassistenz – Umgang und notwendige gesetzliche Regelungen“, die Ende Mai 2025, organisiert von der Evangelischen Akademie, stattfand. „Herr B., 81, kam zu uns mit einer Lähmung aller Extremitäten aufgrund einer Spinalkanalstenose, war beidseitig erblindet und litt unter chronischer Niereninsuffizienz“, berichtet Gockel.

Zwei Jahre zuvor, nach dem Tod seiner Ehefrau, habe er versucht, sein Leben mit Medikamenten zu beenden. Nun hatte ihn die Hausärztin in die Klinik für eine mögliche Schmerztherapie eingewiesen. „Schnell wurde aber klar, dass der Patient keine Schmerztherapie, sondern Hilfe beim Sterben wünschte“, erinnert sich Gockel, der neben seiner ärztlichen Arbeit auch im Vorstand von „Home Care Berlin“ sitzt, einem Verein für spezialisierte ambulante Palliativversorgung.

Herr B. trank extrem viel, weil er gehört haben wollte, dass er bei weniger als zwei Litern täglich an Nierenversagen stirbt, was er als grausamen Tod einstufte. „Wir haben ihm gesagt, dass von allen Todesarten Nierenversagen wahrscheinlich eine der sanftesten Varianten ist“, so Palliativmediziner Gockel. Unmittelbar nach dieser Beratung habe der Patient seine Trinkmenge auf das Nötigste reduziert und ist fünf Tage später friedlich im Beisein seiner Kinder eingeschlafen. 

„Assistierter Suizid ist ein hochkomplexes Thema, bei dem vermeintlich einfache Lösungen einzelnen Menschen nicht gerecht werden.“

Dr. Matthias Gockel

Facharzt für Innere Medizin und Spezialist für Palliativmedizin am Sana Klinikum Lichtenberg in Berlin

Gockels zweites Beispiel handelt von Frau W. Die 66-Jährige litt an einem in die Knochen metastasierten Brustkrebs mit ausgeprägten Schmerzen. Trotz Hormontherapie wuchs der Krebs weiter, worauf sich Frau W. an eine Sterbehilfeorganisation wendete. Gockel, der diese Organisation manchmal medizinisch beriet, verabredete mit der Patientin ein längeres Gespräch. „Es stellte sich heraus, dass Frau W. am meisten unter den Schmerzen litt, aber bislang keine Schmerztherapie erhalten hatte.“ Er habe der Frau einen Platz in einer Palliativstation organisiert, von der sie nach neun Tagen mit deutlich verbesserter Schmerzsituation nach Hause entlassen wurde. Den Sterbewunsch habe sie danach nicht mehr geäußert.

Recht auf selbstbestimmtes Sterben

Mehr als 10.000 Patienten und ihre Angehörigen hat Gockel in den vergangenen 20 Jahren begleitet. Er betont: „Bei meiner Arbeit geht es nicht um lebenssatte Hochbetagte, nicht um psychisch Erkrankte, sondern um körperlich schwerkranke Menschen.“ Doch auch unter diesen Bedingungen sei assistierter Suizid „ein hochkomplexes Thema, bei dem vermeintlich einfache Lösungen einzelnen Menschen nicht gerecht werden“.  Die Unsicherheit resultiert unter anderem aus der unklaren Rechtslage.

Rückblick: 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den damaligen Paragrafen 217 Strafgesetzbuch (StGB) zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für nichtig erklärtDas allgemeine Persönlichkeitsrechtumfasse als Ausdruckpersönlicher Autonomie ein Rechtauf selbstbestimmtes Sterben, begründeten die Richter. Allerdings, so die Verfassungsrichter einschränkend, setze eine freie Suizidentscheidung die Fähigkeit voraus, seinen Willen unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung zu bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können. Mögliche Alternativen müssen Betroffenen bekannt, unzulässige Einflussnahmen ausgeschlossen sein. Zudem müsse der freie Wille von Dauerhaftigkeit und „innerer Festigkeit“ getragen sein.

Das Bundesverfassungsgericht stellte es der Legislative frei, innerhalb dieser Rahmenbedingungen ein Gesetz zu verabschieden. Doch die Bundestagsabgeordneten konnten sich mehrheitlich nicht auf eine Regulierung der Sterbehilfe einigen. Seitdem müssen Mitarbeiter von Kliniken und Pflegeeinrichtungen Lösungen finden, um Sterbehilfe anzubieten, ohne ihre ethischen Grundsätze zu verletzen. Wie dieser Spagat funktionieren könnte, diskutierten Praktiker in dieser Fachkonferenz.

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27.09.2024Tina Stähler3 Min

Unsicherheit beim Klinikpersonal

Die Perspektive der Kliniken vertrat Susanne Michl, Professorin für Medizinethik am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik der Charité. Michl wies auf die begrenzten Möglichkeiten im Klinikalltag hin. „Als Krankenhaus der Akutversorgung ist der Aufenthalt unserer Patientinnen und Patienten meist von kurzer Dauer.“ Längere Beziehungen, während derer Mitarbeiter Menschen palliativmedizinisch betreuen, seien selten. Fragen nach Dauerhaftigkeit und Festigkeit des Sterbewillens ließen sich deshalb nicht immer beantworten.Allerdings gehörten zur Charité Ambulanzen und eine palliativmedizinische Versorgung.

Eine Befragung in der Charité ergab, dass 83 Prozent der rund 840 befragten Beschäftigten schon von Patienten mit konkreten Suizidwünschen konfrontiert worden waren. Über diese hohe Zahl seien sie und ihre Kollegen „etwas erstaunt“ gewesen – auch, wenn „viele Kolleginnen und Kollegen aus der Psychiatrie darunter waren“, so Michl. Über alle Berufsgruppen hinweg hätten immerhin 42 Prozent gesagt, dass sie um Unterstützung bei einem Suizid gebeten wurden. Allerdings kannten nur 33 Prozent der Mitarbeiter Angebote zur Suizidprävention.

Medizinethikerin Michl interpretiert diese Ergebnisse als Hinweis, die Mitarbeiter bestmöglich zu unterstützen. Erste Schritte seien Fortbildungen und ein Kommunikationsleitfaden für den Umgang mit Suizidwünschen. Zudem versuche das Klinische Ethikkomitee mit den Beschäftigten auf Stationen mit besonders vielen Schwerkranken ins Gespräch zu kommen. Ziel sei es, „einerseits freiverantwortliche Menschen zu begleiten, andererseits vulnerable Gruppen zu schützen“, erklärt Professorin Michl.

Ansprechpartner Pflegepersonal

Annette Riedel, Professorin für Pflegewissenschaft an der Hochschule Esslingen, beleuchtet die Rolle der Pflege. Im Gegensatz zum Klinikalltag seien in der ambulanten, vor allem aber in der stationären Langzeitpflege die Beziehungen zwischen Pflegepersonal und den zu Pflegenden oft beständiger. Pflegemitarbeiter sind bei Fragen zur Suizidassistenz häufig die ersten Ansprechpartner. Riedel zitiert den Deutschen Pflegerat, der sich 2024 positionierte: „Die Begleitung von Personen mit Todeswunsch oder Todesabsicht gehört zu den Aufgaben von Pflegefachpersonen.“ Was bedeutet das im Pflegealltag?

„Es geht darum, Hintergründe, Motive, Wünsche, aber auch die hinter einem Sterbewunsch stehende Vulnerabilität zu erfassen; es bedarf Offenheit, Mitgefühl und Respekt und der Blick auf das soziale Umfeld der Betroffenen“, so Riedel. Mit Blick auf den letzten Aspekt spricht die Pflegewissenschaftlerin von „relationaler Autonomie“ –  einem Konzept mit der Prämisse, dass Menschen autonome Entscheidungen nur durch Austausch mit anderen Menschen treffen können. Anders ausgedrückt: Die Definition der eigenen Position benötigt ein Gegenüber, das weitere Informationen liefert, da nur umfassende Informationen Autonomie garantieren.

„Das Ziel ist es, einerseits freiverantwortliche Menschen zu begleiten, andererseits vulnerable Gruppen zu schützen.“

Susanne Michl

Professorin für Medizinethik am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik der Charité

Ethisches Dilemma

Werner WeinholtLeitender Theologe im Johannesstift Diakonie Berlin und Geschäftsführer für vier stationäre und zwei ambulante Hospizdienste, berichtet von zwei Fällen seit 2021, in denen Mitarbeiter entsprechender Vereine an den Johannesstift herangetreten seien und einen assistierten Suizid durchgeführt haben.Wir haben davon gewusst und das in diesen beiden Fällen mitgetragen.“  Für einen christlichen Träger keine einfache Entscheidung. Weinholt sagt: „Nach unserem Menschenbild ist das Leben eine Gabe Gottes, aber bei Menschen, die von unerträglichen Schmerzen geplagt sind, könne man nicht sagen: Gott will nicht, dass du dir selbstbestimmt das Leben nimmst.“ 

Der Theologe unterscheidet in der Palliativarbeit vier Schmerzarten. Neben den bekannten Formen physischer und psychischer Schmerz zählt er auch spirituellen und sozialen Schmerz zu den Ursachen, die ein Leben nicht mehr lebenswert erscheinen lassen. Unter spirituellem Schmerz sei eine negative Lebensbilanz, das Gefühl vom fehlenden Sinn des eigenen Daseins zu verstehen. Sozialer Schmerz bedeute meist Einsamkeit, die Erkenntnis: Alle anderen sind schon weg. Menschen in solchen Situationen zu helfen, sei eine Frage der Barmherzigkeit, so Weinholt. „Wenn Menschen einen Sterbewunsch äußern, aktivieren wir normalerweise ein Netzwerk aus Psychologen und Seelsorgern, um mit den Betroffenen herauszufinden: Was steckt dahinter? Gibt es Präventionsmöglichkeiten?“

Zweiter Anlauf im Bundestag

Unabhängig von der jeweiligen Perspektive hoffen alle Konferenzteilnehmer auf einen künftigen sicheren Rechtsrahmen. In der aktuellen Legislaturperiode wollen Parlamentarier offenbar einen neuen Anlauf für ein Sterbehilfegesetz starten. Lars Castellucci, SPD-Bundestagsabgeordneter, berichtet während der Konferenz von ersten Gesprächen unter Abgeordneten. Doch einfach dürfte ein Kompromiss auch beim zweiten Versuch nicht werden.

Castellucci sagt: „Im Bundestag gibt es einerseits Menschen, für die schon der Begriff der Suizidprävention übergriffig wirkt, weil er bevormundend sei. Diese Gruppe lehne jegliche Schutzkonzepte ab. Vertreter der gegenteiligen Position postulierten: Der Herr entscheidet, wann wir auf die Welt kommen, Gott soll auch entscheiden, wann wir wieder gehen.“ Diese beiden Extreme hätten das Vorhaben in der vergangenen Legislatur „zu Fall gebracht“.    

Ziel in dieser Wahlperiode sei es, den assistierten Suizid zu ermöglichen, ohne ihn zu fördern, und gleichzeitig ein Schutzkonzept für Menschen zu entwickeln, die geschützt werden müssten. „Wir sind guten Mutes, etwas zu vollbringen, was in der Politik derzeit unüblich ist“, so Castellucci, „nämlich uns aufeinander zuzubewegen und eine Lösung zu finden, die nicht nur der kleinste gemeinsame Nenner ist.“

Illustration für das Scrollytelling zur Krankenhausreform
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03.06.20252 Min

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