Artikel Versorgung

Österreich feiert „Meilenstein“ der Primärversorgung

22.07.2025 Irja Most 5 Min. Lesedauer

Das im schwarz-roten Koalitionsvertrag vereinbarte Primärarztsystem reicht Verbänden nicht weit genug, sie fordern eine umfassende Primärversorgung. Österreich ist hier bei der Umsetzung schon einen großen Schritt weiter. Der Leiter der Abteilung für Primärversorgung und Versorgungskoordination der Gesundheit Österreich GmbH gibt gegenüber G+G einen aktuellen Einblick.

Ein Team von Medizinkräften steht an einem Tisch und bespricht sich.
Eine umfassende und damit abschließende Behandlung von Patientinnen und Patienten will die Primärversorgung mit großen Teams bieten, so dass weitere Überweisungen nur im tatsächlichen Bedarfsfall erfolgen.

Das österreichische Gesundheitswesen feiert in diesem Monat die Zahl 100. Denn genau so viele Primärversorgungseinheiten (PVE) gibt es inzwischen in dem Nachbarland. „Mit der 100. Primärversorgungseinheit haben wir einen großen Meilenstein erreicht – und wir zeigen, dass dieses moderne Versorgungsmodell in ganz Österreich gut ankommt. Primärversorgungseinheiten schaffen die Möglichkeit zur umfassenden Behandlung und entlasten den ambulanten Bereich“, betonte Gesundheitsministern Korinna Schumann (SPÖ) anlässlich des Jubiläums.

Zwei Modelle stehen im Vordergrund

Schon 2013 hat sich Österreich auf den Weg zur Stärkung der Primärversorgung im Zuge einer schrittweisen Gesundheitsreform gemacht und dafür einen tiefgreifenden Strukturwandel angestoßen. PVE als erste Anlaufstelle für Menschen mit Gesundheitsanliegen „gibt es als Zentrum oder als Netzwerk“, erklärt David Wachabauer, Leiter der Abteilung, im Rahmen derer die Plattform Primärversorgung koordiniert wird. Diese hat das österreichische Gesundheitsministerium begleitend zum Reformvorhaben ins Leben gerufen.

„Ein Zentrum besteht aus einem Team aus verschiedenen Berufsgruppen mit mehreren Hausärzten und Hausärztinnen, Pflegekräften und Ordinationsassistenz“, erläutert Wachabauer im Gespräch mit G+G. Zu diesem Kernteam können bedarfs- und ortsabhängig weitere Gesundheits- und Sozialberufe hinzukommen, zum Beispiel für die Bereiche Diätologie, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie, Psychologie und Sozialarbeit. „Die einzelnen Berufsgruppen, die in einem Zentrum tätig sind, sind in der Regel angestellt bei der GmbH oder Offene Gesellschaft (OG), bei der die Ärztinnen und Ärzte Gesellschafter sind“, gibt der Experte einen Einblick in die Rechtsform. Unabhängig von der Rechtsform schließt die PVE einen Kassenvertrag mit der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) ab („Invertragnahme“).  Alle Regelungen dazu sind im Primärversorgungsgesetz festgehalten.

Die zweite Möglichkeit der Zusammenarbeit ist ein Netzwerk an mehreren Standorten. „Das sind dann Einzelordinationen, von denen es in Österreich sehr viele gibt, die sehr eng zusammenarbeiten und sich in einem Verein zusammenschließen, um als Netzwerk eine Region gemeinsam zu versorgen“, erklärt Wachabauer. So soll die interprofessionelle Zusammenarbeit gestärkt werden, die es vor der Reform so nicht gegeben habe. „Ein gutes Beispiel ist die soziale Arbeit“, sagt Wachabauer. Die sei bisher nicht Teil des Gesundheitssystems gewesen. Jetzt sollen Menschen auch bei Sozialproblemen direkt vor Ort in einer PVE Hilfe bekommen. Verstärktes Ziel sei es insgesamt, mit den großen Teams abschließende Behandlungen in den PVE zu schaffen. „Im Optimalfall ersparen wir uns auch Überweisungen zu Fachärztinnen und Fachärzten.“ Die Wahl der PVE ist den Versicherten freigestellt.

Die Primärversorgung soll darüber hinaus mehr sein als „nur“ erster Zugangspunkt für Menschen mit einer akuten oder chronischen Erkrankung für eine Behandlung. Im Fokus stünden ebenso Gesundheitsförderung und Vorbeugung von Krankheiten. Eine kontinuierliche und wohnortnahe Betreuung sei dafür von Bedeutung. Denn: Eine gut ausgebaute Primärversorgung mit einem breiten Leistungsspektrum trage dazu bei, sowohl den Gesundheitszustand als auch die Gesundheitschancen der Bevölkerung zu verbessern. „Ziel ist eine integrierte Gesundheitsversorgung – von der Geburt bis ins hohe Alter“, so der Anspruch.

EU-Förderung brachte den großen Anschub

Ein weiteres großes Thema in Österreich sind laut Wachabauer die Öffnungszeiten. Mit den PVE soll die Bevölkerung auch „in den Tagesrandzeiten“ eine gute Versorgung erhalten. „Wir wollen den Menschen die Möglichkeit bieten, dass sie von 7 bis 19 Uhr de facto durchgängig eine hausärztliche Versorgung auffinden“, führt der österreichische Experte aus. 

Der Weg zur 100 war zunächst allerdings etwas zäh. 2015 eröffnete die erste PVE in Wien. Ein „richtiger Boom“ blieb aber aus, bedauert Wachabauer. Doch 2022 gelang es Österreich, 100 Millionen Euro für die Primärversorgung aus EU-Mitteln zu bekommen. Ab da ging es „stetig bergauf“. Die Etablierung der Plattform Primärversorgung half mit Angeboten zur Gründungsunterstützung wie Informationen und Vernetzungsveranstaltungen, berichtet der Leiter. Neben den allgemeinmedizinischen Einrichtungen finden sich in Österreich inzwischen auch 13 PVE speziell für Kinder.

Erste Evaluierungen kommen zu positiven Ergebnissen

Die Vorteile von PVE lägen auf der Hand: Geteilte Verantwortung und Arbeiten im Team mit Fokus auf die eigene Tätigkeit, eine hohe Zufriedenheit bei Patientinnen und Patienten, attraktive Honorierung, persönliche Flexibilität sowie Entlastung des Gesundheitssystems, führt das zuständige Ministerium unter anderem an. Erste Evaluationen zeigen, dass die PVE deutlich kosteneffizienter sind, die neue Versorgungsstruktur gut angenommen wird und die Patientensteuerung sich verbessert hat. So waren die Einweisungen in Spitäler und Weiterleitungen an Fachärzte geringer als in den Kontrollgruppen. Die Patientenzahlen in den PVE sind den Ergebnissen zufolge über alle Standorte gestiegen. 

Als Empfehlung leitet der Evaluationsbericht ab, dass PVE ein zukunftsfähiges Modell der Gesundheitsversorgung bilden und hohe Patientenorientierung sowie Arbeitsplatz-Attraktivität bieten. Und das bei effizientem Mittel-Einsatz. „PVE füllen damit eine Lücke in der Versorgung und sind als abgestufte, integrierte und niederschwellig verfügbare Gesundheitseinrichtungen ein wichtiger Teil“ der Versorgungslandschaft. „Es wird empfohlen, diese Strukturen in der Breite auszurollen und die Gründung weiterer Standorte zu fördern“, bilanziert die Analyse. Wichtig sei es dabei, der Öffentlichkeit ein klares Bild zu vermitteln, was eine PVE sei und was sie leisten könne. So könne den Erwartungshaltungen der Patienten entsprochen und Klarheit bei den niedergelassenen Ärzten geschaffen werden. Zudem brauche es für mehr Aussagekraft weitere Evaluationen.

Schwarz-rote Pläne gehen Verbänden nicht weit genug

Österreich ist damit schon einen großen Schritt weiter als Deutschland. Hierzulande hat sich die seit Mai im Amt befindende schwarz-rote Bundesregierung zunächst die Etablierung eines Primärarztsystems in den Koalitionsvertrag geschrieben. So sollen gesetzlich Versicherte schneller an einen Facharzttermin kommen, verbindlich gesteuert über einen Hausarzt oder eine Hausärztin als erste Anlaufstelle. Verbänden geht das aber nicht weit genug, sie fordern eine umfassende Primärversorgung, die auch andere Berufsgruppen sowie neue Gesundheitsberufe und Instrumente zur Entlastung des Systems mit in den Blick nimmt. Die hausärztliche Versorgung muss laut AOK-Bundesverband zur Primärversorgung weiterentwickelt werden und die Teams in den Praxen unter Einbeziehung weiterer Gesundheitsberufe breiter aufgestellt werden. Auf diese Weise könne auch die Ersteinschätzung besser und schneller funktionieren.

Illustration: Viele Menschen auf verschiedenen Ebenen, laufen, stehen, darunter ein Mensch im Rollstuhl und einer mit Blindenführhund. Links eine Untersuchung beim Facharzt/Vertragsarzt im Sitzen, rechts eine z.B. im Krankenhaus im Liegen.
Eine verbindliche Primärversorgung steuert Patientinnen und Patienten schnell und effizient durchs Gesundheitssystem. Dabei übernehmen in breit aufgestellten Praxisteams verschiedene Gesundheitsberufe ihren Teil des Aufgabenspektrums.
24.07.2025Sabine Richard7 Min

GKV-SV legt Ideen für ambulante Versorgung vor

Der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) hat seine Vorstellungen jüngst in dem Positionspapier „Primärversorgung: Patientenorientierte Koordination in der ambulanten Versorgung“ formuliert. Ziel sei „eine bedarfsgerechte ambulante Versorgung, u. a. durch eine stärkere Steuerung des Zugangs zur medizinischen Versorgung und durch die Reduzierung medizinisch nicht erforderlicher Praxis-Kontakte“. Bestehende nicht effiziente Steuerungsinstrumente würden durch grundlegende strukturelle Instrumente zur Prozesssteuerung mindestens kostenneutral ersetzt. Telemedizin soll dabei eine wichtige Rolle spielen. Die in Deutschland – wie bislang auch in Österreich – längst nicht in ihren Möglichkeiten ausgeschöpft ist. Versicherten soll demnach ein standardisiertes digitales Ersteinschätzungsinstrument als Orientierungs- und Entscheidungshilfe zur Verfügung gestellt werden. 

Der GKV-SV hält wie das Nachbarland größere primärversorgende Praxisstrukturen für zielführend. Es gelte, qualifiziertes Praxispersonal und weitere Gesundheitsberufe in die Versorgung zu integrieren. Zur Wahrnehmung der koordinierenden primärärztlichen Rolle sei zudem ein zeitnaher Zugriff auf alle relevanten Befunde, Diagnosen und Therapieempfehlungen notwendig über eine effiziente digitale Arzt-zu-Arzt-Kommunikation. Dazu sei die Elektronische Patientenakte (ePA) besonders geeignet und die elektronische Überweisung biete hierfür einen effizienten Weg. Deren Kopplung mit einer zentralen, bundesweit einheitlichen volldigitalen Terminvergabe führe „zur bedarfsorientierten Vergabe von Terminen, zu verkürzten Wartezeiten und damit zu einem verbesserten Zugang zur fachärztlichen Versorgung“, befindet der GKV-SV.

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