Interview Versorgung

„Für Menschen mit Behinderung gibt es eine große Versorgungslücke“

30.04.2025 Barbara Huhn 4 Min. Lesedauer

Laut einer aktuellen Unicef-Studie haben Menschen mit Behinderungen im weltweiten Durchschnitt eine um circa 14 Jahre geringere Lebenserwartung als Menschen ohne Behinderungen. Warum es auch in Deutschland Versorgungslücken gibt und wie sich gegensteuern lässt, erklärt Jörg Stockmann, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, im Interview mit G+G.

Doktor sitzte neben einem Mädchen im Behandlungszimmer. Das Kind hält einen Teddybär.
Einfühlsames Verhalten und besseres Verständnis ihrer Situation: Menschen mit Behinderung können so deutlich besser behandelt werden.
Portrait von Dr. Stöckmann, Chefarzt der Inklusiven Medizin im Evangelischen Krankenhaus Hagen-Haspe und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung (DGMGB)
Dr. Jörg Stockmann ist Chefarzt der Inklusiven Medizin im Evangelischen Krankenhaus Hagen-Haspe und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung (DGMGB)

Warum sterben Menschen mit Behinderung früher?

Dr. Jörg Stockmann: Das liegt zum einen an der Art und Schwere der Behinderung und den Folgeerkrankungen. Zum anderen aber auch vor allem daran, dass die Regelversorgung unzureichend auf ihre Bedürfnisse und gesundheitlichen Herausforderungen eingestellt ist.

Wo liegen hier die Schwachstellen?

Stockmann: Viele geistig behinderte Patienten sind nur eingeschränkt kooperationsfähig, zeigen Abwehrreaktionen aus Angst, aufgrund früherer traumatisierender Erfahrungen oder, weil sie nicht verstehen, was gerade mit ihnen passieren soll. Es gibt bei der Behandlung dieser Patienten einfach sehr viele praktische Schwierigkeiten.

Können Sie Beispiele nennen?

Stockmann: Der Betreuer erklärt dem Arzt, dass der Patient acht Kilo Gewicht verloren hat, was vielleicht auf Schmerzen hindeutet. Der Arzt will den Patienten dann untersuchen, der lässt sich aber nicht anfassen. Dann reagiert der Arzt oft hilflos und fragt den Betreuer, was er jetzt machen solle. Er könne den Patienten ja schließlich nicht festhalten. Oder etwa bei der Blutabnahme: Wenn der Patient sich weigert, sich Blut abnehmen zu lassen, weil er Angst vor Spritzen hat oder nicht versteht, warum, dann ist die Diagnostik oft schon am Ende, bevor sie angefangen hat. Ein anderer Grund ist das sogenannte Diagnostic Overshadowing.

Was ist das?

Stockmann: Symptome einer Erkrankung werden durch die besondere Erscheinungsform des Menschen überdeckt und fälschlicherweise dem „üblichen“ Verhalten zugeordnet. Beispiel: Der Patient will nicht essen, beißt sich stattdessen in die Hand. Dann ordnet der Arzt das der Behinderung und nicht einer möglichen Erkrankung, wie einem Magengeschwür, zu und nennt das als Argument, keine Diagnose mehr machen zu müssen.

Werden Männer und Frauen unterschiedlich behandelt?

Stockmann: Aus meiner praktischen Erfahrung nicht. Davon ausnehmen würde ich aber die Gynäkologie. Da gibt es meines Erachtens ein erhebliches Versorgungsdefizit bei der Krebsfrüherkennung. Viele Frauen sind nicht zur Mitarbeit fähig, können sich aus Angst oder Unverständnis heraus nicht auf den Stuhl setzen oder können es auch einfach nicht wegen ihrer körperlichen Beeinträchtigung. So wird Krebs nicht oder viel zu spät erkannt und die Frauen sterben früher, obwohl ihr Tod vermeidbar gewesen wäre. Das Gleiche gilt auch für die Mammografie.

Was raten Sie?

Stockmann: Die unsichtbare Wand zwischen Arzt und Patient lässt sich oft einreißen, wenn der Arzt geduldig, zugewandt und behutsam auf den Patienten eingeht und ihn in den Mittelpunkt der Untersuchung stellt. Bei uns in Hagen schicken wir die Patienten auch nicht gleich weg, sondern nehmen sie stationär auf und versuchen es am nächsten Tag noch einmal. Es liegt ja oft auch nur an der Tagesform des Patienten, ob er will oder nicht.

„Diese Gruppe ist am häufigsten von vermeidbaren Todesfällen im Gesundheitswesen betroffen.“

Dr. Jörg Stockmann

Chefarzt der Inklusiven Medizin im Evangelischen Krankenhaus Hagen-Haspe und DGMGB-Vorstandsmitglied

Was halten Sie von Sedierung und Vollnarkose?

Stockmann:
Die Bereitschaft, einen ängstlichen Patienten schon für eine Blutentnahme zu sedieren, ist bei mir recht hoch, weil ich erlebt habe, was schon alles übersehen wurde, wenn man wegen Schwierigkeiten bei der Diagnostik auf Untersuchungen verzichtet. Und weil ich weiß, dass das Risiko gering ist, wenn man die Sedierung sorgfältig macht, und dass man in kurzer Zeit relativ viel untersuchen und vernünftige Ergebnisse erzielen kann. Sofern keine akute Gefahr besteht, besprechen wir das natürlich vorher mit den Angehörigen beziehungsweise mit den Betreuern. Aber oft stoßen Patienten in Krankenhäusern auf Ärzte, die keine Erfahrung in dieser Hinsicht haben, die erst mal nur spüren: Das wird schwierig. Und weil sie Sorge haben, sich falsch zu verhalten, werden dann wichtige Untersuchungen unterlassen.

Hat sich denn etwas verbessert?

Stockmann:
Ja! Seit 2015 gibt es Medizinische Zentren zur Behandlung von Erwachsenen mit Behinderung (MZEB). Zwischen 50 und 60 Zentren existieren inzwischen in Deutschland. Diese Zentren ergänzen die spezialisierte Versorgung, indem sie die gesamte „Fachexpertise vor Ort versammeln", also etwa Fachärzte, wie Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, Psychologen, Sozialberatung. Kurzum: Dort ist die Kompetenz in multiprofessionellen Teams versammelt.

Foto: Porträt von Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
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Hat sich etwas verschlechtert?

Stockmann: Die zunehmende Spezialisierung produziert immer mehr „Fachidioten“, denen der umfassende Blick fehlt. Diese Entwicklung schadet den Betroffenen. Menschen mit Behinderung brauchen für eine Untersuchung mehr Zeit, die Spezialisten meist nicht mehr haben, da Termine und Untersuchungen sehr eng getaktet sind. In einem Gesundheitssystem, das in hohem Maße und auf vielen Ebenen normiert, pauschaliert und spezialisiert ist, werden Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung oft nicht adäquat berücksichtigt. Das gilt vor allem für Erwachsene mit intellektueller Beeinträchtigung.

Was wünschen Sie sich von dem neuen Bundesgesundheitsminister beziehungsweise der neuen -ministerin?

Stockmann: Er beziehungsweise sie soll Anreize schaffen für eine aufwändige Diagnostik bei Menschen mit eingeschränkter Kooperationsfähigkeit und mehrfacher Behinderung. Außerdem muss die stationäre Versorgung verbessert werden – und zwar flächendeckend. MZEB reichen alleine nicht aus, um diese Patientengruppe gut zu versorgen.

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