Angst, Überforderung, Misstrauen: Warum viele das Wissen über Krankheiten scheuen
Ein Drittel der Menschen will nicht über eine schwere Erkrankung informiert werden – auch wenn sie selbst betroffen sein könnten. Das zeigt eine neue Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Die Ergebnisse verdeutlichen: Informationsvermeidung ist ein weit verbreitetes Phänomen. Dabei gilt für viele Erkrankungen – je früher sie erkannt werden, desto besser sind die Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung. Warum Menschen medizinische Informationen meiden und welche Rolle Vertrauen spielt, erklärt Konstantin Offer, Erstautor der Studie.


Herr Offer, warum blenden viele Menschen Informationen über ihre Gesundheit aus?
Konstantin Offer: Dafür gibt es viele Gründe. Unsere Studie hat 16 Faktoren ermittelt, die mit der Vermeidung medizinischer Informationen zusammenhängen. Vorweg: Weder Geschlecht noch ethnische Zugehörigkeit spielten eine Rolle. Häufig gaben Teilnehmende an, Informationen über Diagnosen zu meiden, wenn sie sich überfordert fühlten, beispielsweise bei komplexen Erkrankungen wie Krebs. Auch Furcht vor Stigmatisierung, etwa bei einer HIV-Infektion, oder geringes Vertrauen in das medizinische System traten häufig in Zusammenhang mit Informationsvermeidung auf.
Welchen Einfluss haben gesellschaftliches und strukturelles Umfeld?
Offer: Informationsvermeidung hängt nicht allein von individuellen Einstellungen ab, sondern auch davon, wie stark das soziale Umfeld und verfügbare Informationen das Verhalten prägen. Ein Beispiel: Wer in seinem Umfeld erlebt, dass Menschen mit einer bestimmten Krankheit stigmatisiert werden, meidet eher Informationen über diese Krankheit – beispielsweise aus Angst, selbst ausgegrenzt zu werden. Auch Menschen, die mit einer Überfülle an Informationen oder Empfehlungen konfrontiert sind, berichteten häufiger, Arztbesuche oder Tests hinauszuzögern.
„Unsere Studie zeigt: Wer wenig auf das Gesundheitssystem vertraut, meidet eher Informationen.“
Erstautor der Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung
Auch Versicherung, Gesundheitskompetenz oder Einkommen haben laut Ihrer Studie Auswirkungen. Inwiefern?
Offer: Menschen ohne Krankenversicherung berichten häufiger, medizinische Informationen zu meiden. Dagegen sind Krankenversicherte für Informationen meist offen. Ähnliche Unterschiede gibt es hinsichtlich Beschäftigungsstatus, Ehestatus und Einkommen. Konkret: Menschen, die berufsuntätig oder unverheiratet sind oder wenig verdienen, neigen im Schnitt eher dazu, Gesundheitsinformationen zu ignorieren. Auch Personen, die weniger vertraut im Umgang mit medizinischen Informationen sind, greifen seltener darauf zurück.
Inwieweit spielt Vertrauen in das Gesundheitssystem eine Rolle? Und was lässt sich daraus ableiten?
Offer: Unsere Studie zeigt: Wer wenig auf das Gesundheitssystem vertraut, meidet eher Informationen. Aus unserer Untersuchung lassen sich jedoch keine direkten politischen Empfehlungen ableiten, da unsere Arbeit beschreibend ist. Sie zeigt vor allem, wie verbreitet Informationsvermeidung ist und welche Faktoren sie möglicherweise begünstigen. Interessant ist jedoch der Ansatz von Dhruv Khullar, Arzt und Professor für Gesundheitspolitik am Weill Cornell Medical College, der besagt, dass Vertrauen ein wechselseitiger Prozess sei. Das heißt: Wenn Behandelnde auf ihre Patientinnen und Patienten eingehen, reagieren diese häufig mit mehr Vertrauen. Wer gut zuhört und die gegenüberstehende Person ernst nimmt, kann das gegenseitige Vertrauen stärken – und damit unter Umständen auch die Bereitschaft, sich mit medizinischen Informationen auseinanderzusetzen.
Unterscheiden sich Recht auf Nichtwissen und medizinische Informationsvermeidung?
Offer: Wir hoffen, dass Folgearbeiten auf unserer Studie aufbauen und genauer untersuchen, inwieweit sich das Recht auf Nichtwissen von der tatsächlichen Informationsvermeidung unterscheidet.
Meta-Analyse
Die Forschenden haben Daten aus 92 Studien mit insgesamt 564.497 Teilnehmenden aus 25 Ländern inklusive Deutschland analysiert. Sie wollten wissen, wie weit verbreitet die Vermeidung medizinischer Informationen ist und welche Gründe Menschen dafür haben. Die analysierten Studien umfassen unter anderem die Krankheiten Alzheimer, Huntington, HIV/Aids, Krebs und Diabetes. Als Informationsvermeidung definierten die Autoren „jede Form von Verhalten, die darauf abzielt, die Beschaffung verfügbarer, aber potenziell unerwünschter Informationen zu verhindern oder zu verzögern“. Dazu gehört beispielsweise, Arztbesuche hinauszuzögern oder gar nicht erst wahrzunehmen, medizinische Tests nicht durchzuführen oder die Ergebnisse nicht zur Kenntnis zu nehmen, Aufklärungsmaterialien zu ignorieren.
Das Ergebnis: Fast ein Drittel der Studienteilnehmenden meidet medizinische Informationen oder wird sie wahrscheinlich meiden. Am höchsten war die Quote bei den beiden unheilbaren neurodegenerativen Krankheiten. Bei Alzheimer lag sie bei 41 Prozent, bei Huntington bei 40 Prozent. Bei schweren, aber behandelbaren Krankheiten wie einer HIV-Infektion oder Krebs sank sie auf 32 respektive 29 Prozent. Mit 24 Prozent am geringsten ausgeprägt, aber immer noch bedenklich hoch, war das Vermeidungsverhalten bei Diabetes, der zwar chronisch, aber gut behandelbar ist.
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