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Digitalisierung von Leitlinien: Revolution mit Bremsklötzen

07.09.2023 Frank Brunner 4 Min. Lesedauer

Leitlinien spiegeln den medizinischen Wissenstand, komprimiert in großen PDF-Dateien. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen diese Empfehlungen digitalisieren und mit Künstlicher Intelligenz verknüpfen. Doch dafür müssen politische Hürden überwunden werden.

Foto: Auf einem aufgeklappten Laptop liegt ein Stethoskop, daneben befinden sich Symbole für Digitalisierung.

Wenn Martin Sedlmayr über seine Arbeit spricht, wählt er gerne das Beispiel mit den Medikamenten. Mehr als 100.000 davon gibt es in Deutschland. „Kein Arzt kann die Wechselwirkungen aller Arzneimittel untereinander parat haben“, sagt Sedlmayr, Professor für Medizinische Informatik an der TU Dresden und Direktor des Zentrums für Medizinische Informatik der Hochschulmedizin Dresden. Gerade für ältere Menschen sind diese Wechselwirkungen problematisch. Sie leiden häufig unter verschiedenen Erkrankungen und werden deshalb meist mit mehreren Medikamenten therapiert. Hinzu kommt: Im Alter reagiert der Körper anders auf Arzneimitteln als in jüngeren Jahren – unter anderen deshalb, weil die Leistungsfähigkeit der Leber, über die Wirkstoffe abgebaut werden, sinkt. 

Einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zufolge bekamen 2022 rund 8,3 Millionen Seniorinnen und Senioren Medikamente verordnet, die ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis für ältere Menschen aufweisen. Bislang informiert die sogenannte Priscus-Liste über solche „Potenziell Inadäquate Medikation“ (PIM). Eine lange Tabelle, gefüllt mit winziger Schrift. Nicht immer finden Ärztinnen und Ärzte Zeit, sich durch diesen Buchstabensalat zu kämpfen. Zwar existieren elektronische Medikationssysteme, einige berücksichtigen die Priscus-Liste, aber oft sind diese Informationen nicht verknüpft mit medizinischen Leitlinien oder individuellen Patientenangaben. Medizininformatiker Sedlmayr möchte deshalb verschiedene digitale Systeme verknüpfen. Im Gespräch mit G+G Digital schildert er seine Vorstellungen.

„Kein Arzt kann die Wechselwirkungen aller Arzneimittel untereinander parat haben.“

Prof. Dr. Martin Sedlmayr

Professor für Medizinische Informatik an der TU Dresden und Direktor des Zentrums für Medizinische Informatik der Hochschulmedizin Dresden

Therapie mit Nullen und Einsen

Will künftig ein Arzt oder eine Ärztin ein Medikament verordnen, wird über eine App oder ein Praxisinformationssystem der Namen des Mittels in die Eingabemaske eingegeben. Sekundenbruchteile später zieht sich im Hintergrund eine Software Informationen, wie Alter, Körpergewicht, Vorerkrankungen, Diagnose und bereits verwendete Medikamente aus der elektronischen Patientenakte und vergleicht sie mit einer riesigen Datenbasis, die auf medizinischen Leitlinien basiert. Notfalls warnt das System vor einem Wirkstoff und empfiehlt Alternativen. Sedlmayr sagt: „Es kann sein, dass eine Medikation genau auf eine Diagnose passt. Allerdings verursacht das Mittel als Nebenwirkung starke Müdigkeit. Dann ergibt es einen Unterschied, ob ich es einer Seniorin verschreibe, die zwischendurch ein Schläfchen halten kann, einer alleinerziehenden Mutter mit Kleinkind oder gar einem Berufskraftfahrer.“ Sicher: Ärztinnen und Ärzte, die ihre Patienten kennen, können Lebenssituationen auch ohne elektronische Hilfe berücksichtigen. Aber ein Computer arbeitet 24 Stunden lang, an sieben Tagen der Woche, ohne zu ermüden, wie Martin Sedlmayr betont.

In einer nächsten Stufe könnten solche Entscheidungs-Unterstützungssysteme auf weitere Angaben zurückgreifen – beispielsweise von Fitnesstrackern und Smartwatches. Große Hoffnungen setzt Martin Sedlmayr auf den Bereich Ambient Assisted Living, also alltagsunterstützende Assistenzlösungen. Diese Systeme sammeln bei pflegebedürftigen Personen situationsabhängig Daten, werten sie aus, bieten gegebenenfalls Hilfestellung, informieren wenn erforderlich den Pflegedienst oder Ärztin oder Arzt.

Interessant sei in diesem Zusammenhang das Thema Künstliche Intelligenz (KI), sagt Professor Sedlmayr. „Es gibt die Möglichkeit, dass sich der Algorithmus, der Patienten überwacht, oder Therapievorschläge unterbreitet, nach jedem neuen Patienten selbstständig verändert.“ Das System messe den individuellen Therapieerfolg oder -misserfolg, speise diese Daten automatisch in sein System und korrigiere den Algorithmus entsprechend der neu gewonnenen Informationen.

Kompetenter als Chat GBT

Wann Sedlmayrs Szenario Realität wird, ist ungewiss. Denn noch versperren jede Menge Hürden den Weg in die neue Digitalwelt. Um diese zu überwinden, sind nicht nur Ärzteschaft und Informatikerinnen und Informatiker gefragt, sondern auch die Politik sowie Juristinnen und Juristen. Benötigt werden Lösungen für mindestens fünf Probleme.

Hürde Nummer eins: Digitalisierung. Derzeit ist noch nicht einmal eine Grundbedingung für intelligente Therapiehilfen erfüllt: Die Leitlinien, unverzichtbare Wissensbasis für jeden Algorithmus, existieren als PDF-Dateien, teilweise mehrere hundert Seiten lang. Allein das Register der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) umfasst rund 850 Leitlinien. Medizinprofessorin Ina Kopp, Leiterin des Institut für Medizinisches Wissensmanagement der AWMF, will diese Empfehlungen mit ihrem Team in den kommenden Jahren in Computersprache übersetzen.

Allerdings müssen digitalisierte Leitlinien mehr können als KI-Bots, wie Chat GBT. „Dort richten sich die Ergebnisse nach der Häufigkeit, mit der GBT zuvor mit ähnlichen Antworten punkten konnte“, sagt Ina Kopp. Leitlinien sollten aber auch die Qualität der Evidenz und den Empfehlungsgrad abbilden. Also Faktoren, wie Relevanz der verwendeten Literatur, die Aussagesicherheit von analysierten Studien und ob bei speziellen Aspekten Konsens oder Dissens unter den Leitlinienautoren herrschte.

Gesetze von gestern

Hürde Nummer zwei: Datenschutz. Patientendaten sind sensible Daten. Martin Sedlmayr betont deshalb die besondere Verantwortung von Ärzteschaft und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, gerade „für Menschen, die sich ja nicht selten in einer akuten Notsituation befinden.“ Er schlägt unter anderem vor, dass entsprechende Angaben, selbst wenn sie pseudonymisiert oder anonymisiert sind, nicht auf Servern in den USA oder China, sondern im deutschen Datenschutzraum gespeichert werden.

Hürde Nummer drei: Rechtslage. Entscheidungs-Unterstützungssystemen, die mit Künstlicher Intelligenz arbeite, dürfen derzeit nicht eingesetzt werden. „Eine Software, die geeignet ist, ärztliche Entscheidungen zu beeinflussen, gilt als Medizinprodukt – und das muss zertifiziert werden“, erläutert Sedlmayr. Eine Zertifizierung erfordere aber feststehende Parameter. Sich selbst verändernde Systeme seien deshalb nicht zulassungsfähig. Über mögliche Änderungen der Bestimmungen müssen Juristinnen und Juristen und Ethikerinnen und Ethiker diskutieren, denn es geht auch um haftungsrechtliche Aspekte. Etwa um die Frage: Wer verantwortet Fehlentscheidung einer selbstlernenden KI? Am Ende kann darüber nur der Gesetzgeber entscheiden.

Hürde Nummer vier: Black-Box-Algorithmen. Bei komplexen KI-Modellen ist oft nicht nachvollziehbar ist, warum das System bestimmte Entscheidung trifft. Ein relativ neuer Forschungszweig – Explainable Artificial Intelligence (Erklärbare Künstliche Intelligenz) will Wissenslücken schließen, Modelle so gestalten, dass sie abschnittsweise nachvollziehbar sind. Das Europäische Parlament plant, Entwicklerinnen und Entwickler zu verpflichten, ein umfassendes Risikomanagementsystem einzurichten. Die Idee: Je nach Nutzerrisiko unterliegen die KI-Systeme entsprechend strengen Regulierungen, die im Zweifel auch Entscheidungsbefugnisse der selbstlernenden Maschinen stark einschränken können. Der EU-Rat soll eine entsprechende Verordnung bis Ende 2023 verabschieden.

Arbeitserleichterung für Ärztinnen und Ärzte

Hürde Nummer fünf: Interoperabilität. Aktuell sind viele, bereits bestehende Entscheidungs-Unterstützungssysteme untereinander inkompatibel. Jeder Anbieter nutzt eigene Algorithmen, eigene Software, eigene Benutzeroberflächen. Das erleichtert nicht die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten. Leitliniensysteme und Entscheidungs-Unterstützungssysteme müssen miteinander kommunizieren können. Martin Sedlmayr plädiert deshalb auch hier für einen gesetzlichen Rahmen, der Hersteller zu gemeinsamen Schnittstellen verpflichtet.

Sollten all diese Barrieren beseitigt sein, bleibt immer noch die Ärzteschaft als Hauptadressat digitaler Leitlinien und Entscheidungs-Unterstützungssysteme. Doch benötigt schon heute gut ausgelastetes Personal in Praxen und Kliniken weiteres Equipment, mit dem es sich auseinandersetzen muss? „Ja“, sagt Medizininformatiker Sedlmayr. „Weil solche Systeme Zeit sparen, die Arbeit erleichtern und sie teilweise sogar automatisieren.“

Foto: Ein Mann im Arztkittel tippt auf einem Tablet, hält ein Smartphone in der Hand und trägt ein Stethoskop um den Hals.
Bislang erstrecken sich medizinische Leitlinien über riesige PDF-Dateien. Künftig soll der aktuelle Forschungsstand digitalisiert vorliegen.
20.09.2023Frank Brunner3 Min

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