Interview Prävention

„Wir müssen Prävention im Grundgesetz verankern“  

22.09.2025 Hilke Nissen 3 Min. Lesedauer

Nur 21 Prozent der Präventionsangebote werden laut des jüngsten Reports der Deutschen Krankenversicherung (DKV) genutzt. Warum das so ist, welche Hürden bestehen und welche politischen Schritte nötig sind, erklärt Professor Dr. Ingo Froböse, Sportwissenschaftler und Studienleiter des Reports.

Auf dem Foto sieht man einen gesunden Lebensstil: Gemüse und Obstteller, Turnschuhe eine Waage und Hanteln als Symbol für Training und Kraft .
Es ist nicht für alle Menschen leicht, einen gesunden Lebensstil im Alltag umzusetzen.

Herr Professor Froböse, warum gelingt es nicht, trotz guter Wissenslage, gesunde Lebensstile in die Köpfe der Menschen zu bringen und in der Breite zu verankern?

Prof. Dr. Ingo Froböse: Die Menschen wissen prinzipiell, dass sie für ihre Gesundheit aktiv werden sollten. In der aktuellen Umfrage der Deutschen Krankenversicherung aus diesem Jahr haben wir das auch abgefragt. Bewegung, Ernährung und Stressregulation wurden klar genannt. Aber es fehlt an Gesundheitskompetenz, also am Wissen, wie ein gesunder Lebensstil im Alltag umgesetzt werden kann. Denn die Menschen bekommen oft widersprüchliche Informationen und sind durch die Vielfalt der Angebote überfordert, weil der rote Faden fehlt: Was ist eigentlich wichtig und individuell passend?

Was bedeutet das konkret?

Froböse: Unser Gesundheitssystem ist weiterhin darauf ausgerichtet, erst mit einer Diagnose als Reparaturbetrieb Krankheiten zu behandeln und nicht zu verhindern. Das sind die Menschen so gewohnt, das haben sie gelernt. Daher haben wir Lebenswelten geschaffen, die es erschweren, gesundes Verhalten zu leben. Das Thema Gesundheit wird nicht überall mitgespielt, im Gegenteil sogar: Vielmehr überwiegen ungesunde Angebote und Verlockungen der Industrie. Die Verführung der Industrie ist riesig, da spielt das Thema Gesundheit keine Rolle mehr.

 

Foto: Porträt von Professor Ingo Froböse, Sportwissenschaftler
Prof. Dr. Ingo Froböse, Sportwissenschaftler und Studienleiter des DKV-Reportes „Wie gesund lebt Deutschland?"

Prävention ist gesetzlich festgeschrieben und die Krankenkassen bieten zahlreiche Präventionskurse an, aber nur 21 Prozent der Befragten aus dem Report nutzen sie. Sie empfehlen eine zielgruppengerechte Prävention. Was bedeutet das genau?

Froböse: Die häufigsten Nutzer dieser Präventionsangebote sind gut gebildete Frauen mittleren Alters. Jene Menschen, die bereits eine intellektuelle Grundausstattung besitzen und sensibilisiert für das Thema Gesundheit sind, gehen zu Präventionskursen. Das heißt, wir haben für viele Zielgruppen überhaupt kein Angebot: Es fehlen spezielle Angebote und Ansprachen für Kinder und Jugendliche, Senioren, Gruppen mit geringerer formaler Bildung und Menschen mit Migrationshintergrund, deren kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Ansprache berücksichtigt werden sollte. Neben den passenden Angeboten fehlt es an zielgruppenspezifischem Marketing. Mit mehr Erlebnisorientierung und spieltypischen Elementen (Gamification) erreicht man zum Beispiel Kinder und Jugendliche besser. Präventionsmaßnahmen sollten ferner „aufsuchend“ gestaltet werden. Wir können gerade von türkischen Menschen, die in ihren Gemeinschaften in Deutschland leben, nicht erwarten, dass sie sich Prävention nähern, das haben Studien gezeigt. Also Prävention muss dort sein, wo die Menschen leben und arbeiten.

Was halten Sie von verpflichtenden Präventionsberatungen für Risikogruppen – etwa bei Übergewicht und Diabetes-Typ-2 – zum Beispiel bei Berufseintritt oder in bestimmten Lebensphasen?

Froböse: Das wäre sehr sinnvoll. Zwar ist die Ärzteschaft formal verpflichtet, Prävention zu fördern. In der Realität sind die Hausärzte aber meist überlastet und können Prävention kaum leisten. Am Beispiel Bluthochdruck kann man sagen, dass zumeist ein Medikament verschrieben wird, weil das eine schnellere Wirkung erzielt und für die Menschen einfacher auszuführen ist. Das Gleiche sehen wir gerade bei der sogenannten Abnehmspritze.

„Wir brauchen eine Grundgesetzänderung zur Etablierung des Rechtes auf eine gesunde Lebenswelt.“

Prof. Dr. Ingo Froböse

Sportwissenschaftler und Studienleiter des jüngsten DKV-Reports

Reicht es im Erwachsenenalter mit einer Präventionsberatung zu beginnen?

Froböse: Idealerweise sollte Gesundheitskompetenz bereits in der Schule verpflichtend und dauerhaft als Bildungsfach unterrichtet werden. Spätestens beim Eintritt ins Berufsleben sollte eine verpflichtende Beratung stattfinden. Denn viele Berufseinsteiger sind bereits gesundheitlich belastet, auch psychisch. Damit die Gesellschaft leistungsfähig bleibt, ist das im Interesse aller.

Was muss sich ändern, damit die Gesellschaft gesünder wird?

Froböse: Wir brauchen eine strukturelle Veränderung, mit der auch der Gesetzgeber verpflichtet wird: Im Sinne des Health-in-All-Pollices-Ansatzes sollte Gesundheit bei allen politischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Ich fordere hier sogar eine Grundgesetzänderung zur  Etablierung des Rechtes auf eine gesunde Lebenswelt. Dies ist nichts Ungewöhnliches, denn etliche Länder haben das bereits in ihren Grundgesetzen verankert. Wenn Gesundheit, Lebensstil und Lebensqualität überall gesetzlich verbrieft mitgedacht werden, könnten Krankenkassen, Unfallversicherung und andere verpflichtende Dinge auch einfordern, was zurzeit sehr schwer ist. So könnten wir zu einer gesünderen und aktiven Gesellschaft kommen.

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Was sind aus Ihrer Sicht die drei größten gesundheitspolitischen Hebel, um das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung langanhaltend zu verbessern?

Froböse: Erstens befürworte ich, wie in den skandinavischen Ländern und auch im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland, eine Steuer auf ungesunde Lebensmittel (zum Beispiel Zuckersteuer) und eine spürbare Erhöhung der Alkohol- und Tabaksteuer. Zweitens würde ich ein deutlich attraktiveres Bonussystem zur Belohnung gesunden Verhaltens einführen, denn die heutigen Prämien sind wirkungslos. Drittens benötigen wir dringend bundesweit das schulformübergreifende Unterrichtsfach Gesundheitskompetenz, um dann von früh an eine gesunde Gesellschaft aufzubauen. An dieser Stelle muss der Föderalismus aufhören und es zulassen, dass wir hier alle an einem Strang ziehen.

Der DKV-Report 2025: Wie gesund lebt Deutschland?

Die Deutsche Sporthochschule Köln hat gemeinsam mit der Universität Würzburg im Auftrag der Deutschen Krankenversicherung (DKV) das Gesundheits- und Bewegungsverhalten der Deutschen in einer repräsentativen Studie erfragt. Befragt wurden vom 11. Februar bis zum 17. März 2025 deutschlandweit insgesamt über 2.800 Menschen ab 18 Jahren zu ihren Lebensgewohnheiten mithilfe von leitfaden- und computergestützten Telefon- und Online-Interviews.

Seit 15 Jahren beschäftigt sich der Report mit dem Lebensstilverhalten wie körperlicher Aktivität, Sitzen, Ernährung, Rauch-, Dampf- und Alkoholkonsum sowie Stressverhalten. Neben diesen Themen setzt der diesjährige DKV-Report Schwerpunkte in den Bereichen Vorsorge, Prävention und digitale Gesundheitskompetenz.

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