Artikel Prävention

Mehr gesunde Jahre für alle: Die Politik muss jetzt handeln

14.07.2025 Maria Sinjakowa 3 Min. Lesedauer

Zum Geburtstag wünschen sich die meisten Menschen ein gesundes und langes Leben. Das klingt ganz selbstverständlich. Doch damit der Wunsch in Erfüllung geht, braucht es mehr als Glück oder gute Gene. Es braucht ein gesellschaftliches Umdenken – und Rahmenbedingungen, die es Menschen erleichtern, Entscheidungen zu treffen, die ihrer Gesundheit guttun. Wie das gelingen kann, damit beschäftigte sich eine Podiumsdiskussion beim ersten Kongress für Prävention und Langlebigkeit, den die Gesundheitsstadt Berlin in der Hauptstadt veranstaltet hat.

Im Supermarkt steht ein Junge mit leuchtenden Augen vor dem Süßigkeitenregal und nimmt sich eine Packung Weingummis.
Die eigene Umgebung beeinflusst maßgeblich, welche Produkte wir kaufen.
Oliver Huizinga ist Abteilungsleiter Prävention im AOK-Bundesverband.

Die Frage, was ein gesundes und langes Leben ausmacht, wird vermutlich jeder Mensch anders beantworten. Die meisten möchten wohl bis ins hohe Alter körperlich und geistig fit bleiben und ein selbstbestimmtes Leben möglichst ohne Pflegebedürftigkeit führen. Wie lange wir tatsächlich gesund bleiben, hängt von vielen Faktoren ab. Ein Teil ist genetisch vorgegeben – und damit kaum beeinflussbar. Doch deutlich größeren Einfluss haben der eigene Lebensstil und die Umgebung, in der wir leben. Wie wir uns ernähren, bewegen, arbeiten oder wohnen – all das hat Einfluss auf unsere Gesundheit. Und genau hier liegt die Chance für mehr gesunde Jahre. Denn Verhalten und Umwelt lassen sich verändern – individuell, aber auch gesellschaftlich.

Um genau darüber zu diskutieren, kamen in Berlin zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Gesundheitswesen, Wissenschaft und Forschung, Medizin, Politik und öffentlichen Institutionen zum ersten Kongress für Prävention und Langlebigkeit zusammen. Bei der Abschlussveranstaltung stand vor allem die Frage im Fokus, was Politik und Gesellschaft tun können, damit möglichst viele Menschen möglichst viele gesunde Lebensjahre verbringen.

Deutschland ist Spitzenreiter bei ungesundem Verhalten

Der Befund der OECD für Deutschland ist erschreckend. Rund 40 Prozent aller Todesfälle hierzulande sind auf verhaltensbedingte Risikofaktoren zurückzuführen: Rauchen, Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel. Mit anderen Worten: Vier von zehn Todesfällen ließen sich potenziell vermeiden – wenn sich Menschen gesünder verhalten und wenn die Rahmenbedingungen dies ihnen einfacher machen würden. „Deutschland ist auf einer Schlusslicht-Position – sowohl bei der Lebenserwartung als auch bei der Verhältnisprävention, zumindest im Vergleich zu anderen Ländern in Nord- und Westeuropa“, sagte Oliver Huizinga, Abteilungsleiter Prävention im AOK-Bundesverband bei der Veranstaltung. Besonders deutlich werde das im sogenannten „Nanny State Index“, einem Ranking, das von einem tabakindustrienahen Institut herausgegeben wird und das politische Maßnahmen zum Gesundheits- und Verbraucherschutz kritisch bewertet und staatliche Eingriffe eher ablehnt.

„Deutschland ist laut diesem Index das beste Land in der EU, um zu trinken, zu rauchen, zu essen und zu dampfen“, spitzte Huizinga die Aussagen des Index zu. „Ich weiß nicht, ob wir auf diesen Spitzenplatz besonders stolz sein sollten.“ Bei Tabak-, Alkohol- und Ernährungspolitik sei Deutschland weit abgeschlagen. Während andere Länder über tabakfreie Generationen diskutieren, sei hierzulande das Rauchen im Auto bei Anwesenheit von Kindern noch erlaubt und „begleitetes Trinken“ ab 14 Jahren stünde im sogenannten Jugendschutzgesetz. Und für die Ernährungsindustrie gebe es bislang keine verbindlichen Vorgaben auf der Bundesebene.

„Wir müssen die Lebenswelten so gestalten, dass die gesunde Entscheidung einfacher wird – und die ungesunde ein bisschen schwerer.“

Oliver Huizinga

Abteilungsleiter Prävention im AOK-Bundesverband

Potenziale bleiben ungenutzt

Huizinga ist überzeugt, Deutschland lasse riesige gesundheitspolitische Potenziale ungenutzt, weil es an parteipolitischen Mehrheiten für präventive Maßnahmen fehle. Diese Lücken könnten auch nicht allein durch Regelungen innerhalb des Sozialgesetzbuches geschlossen werden. Um diese Potenziale zu heben, brauche es breite gesellschaftliche Bündnisse zwischen Krankenkassen, Ärzteschaft, Verbraucherschutz und weiteren Akteuren. Davon würde nicht nur jede einzelne Person profitieren, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Weniger chronische Erkrankungen bedeuten weniger medizinische Folgebehandlungen, eine geringere Pflegebedürftigkeit und mehr Menschen, die länger gesund und aktiv am (Arbeits)Leben teilhaben können. Das entlaste das Gesundheitssystem – und stärke zugleich die wirtschaftliche und soziale Stabilität.

Deutschland muss „Versäulung“ überwinden

Um präventive Potenziale zu nutzen, muss Deutschland zunächst seine strukturellen Schwächen überwinden, meinte Falko Liecke, Staatssekretär für Jugend und Familie in Berlin. „Wir sind nach wie vor zu sehr versäult unterwegs.“ Die gesetzlichen Rahmenbedingungen trügen ihren Teil dazu bei – insbesondere im Zusammenspiel verschiedener Sozialgesetzbücher. Viele Maßnahmen liefen parallel und würden nicht zusammengedacht. Diese mangelnde Vernetzung koste nicht nur Zeit und Energie, sondern auch Geld. „Wir verschwenden enorm viele Ressourcen in der Versorgung, ohne dass sie am Ende wirklich bei den Menschen ankommen“, sagte der Staatssekretär. Sein Appell an die Bundesregierung: Es brauche mehr Integration, mehr Kooperation, und vor allem mehr Mut, die starren Strukturen zu überwinden, damit Prävention und Gesundheitsförderung dort ankommen, wo sie am meisten bewirken können.

Auch Peter Stawenow, der das Kompetenzzentrum „Offene Altenarbeit“ des Sozialwerks Berlin leitet, kennt die Herausforderungen bei der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen ebenfalls: „Es geht nicht nur um Versorgung, sondern auch um Zuständigkeiten – Bund, Land, Kommune. Jeder zeigt auf den anderen.“ Hinzu kämen bürokratische Hürden, die es extrem erschwerten, Projekte tatsächlich auf die Straße zu bringen. Statt neue Strukturen zu schaffen, sei es sinnvoller, vorhandene Ressourcen zu bündeln und auf andere Regionen zu übertragen – angepasst an den konkreten Bedarf vor Ort. Es sei wichtig, erfolgreiche Modellprojekte nicht isoliert stehen zu lassen: Statt einzelner Leuchttürme brauche es „Lichterketten“, die Erfahrungen und Strukturen langfristig miteinander verbinden. Aus Sicht von Stawenow, könne Prävention nur so nachhaltig wirken.

Foto: Drei Essensboxen stehen nebeneinander: links Crepes mit Dipp, daneben Coscous mit Soße, daneben Brokkoli.
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Foto: Auf einem Foto sind viele Süßigkeiten zu sehen, darunter Pudding, Donuts, Gummibären und Limonade.
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Prävention beginnt mit der Geburt

Einen anderen Ansatz für Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen präsentierte Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Seniorprofessorin an der Berliner Charité. Als Teil des Forschungsteams im Friede Springer – Cardiovascular Prevention Center untersuchte sie die frühzeitige Cholesterin-Erkennung: „Bei der routinemäßigen Fersenblutentnahme bei Neugeborenen lassen sich erhöhte Cholesterinwerte feststellen“, erklärte sie. „Und weil die Babys nicht allein zur Untersuchung kommen, testen wir gleich auch die Eltern mit – häufig überrascht es, wie viele Familienmitglieder betroffen sind.“ Ein solches Screening ermögliche nicht nur frühzeitige Vorsorge fürs Kind, sondern wirke präventiv für die ganze Familie – und stärkt Gesundheitsbewusstsein und Wissen generationenübergreifend.

Präventionsexperte Huizinga griff die Diskussion auf und unterstrich, dass sich auch die medizinische Prävention sicherlich optimieren ließe, betonte allerdings, dass der eigentliche Hebel für mehr gesunde Lebensjahre an anderer Stelle liege: „Vorsorge ist wichtig und gehört in die Zuständigkeit des Gemeinsamen Bundesausschusses, der das evidenzbasiert bewerten muss. Doch der ‘Elefant im Raum‘ sind die ungesunden Lebensweisen und Umgebungen, in denen Menschen heute aufwachsen.“ Es sei schlichtweg noch nie so einfach gewesen, sich ungesund zu ernähren. Die sogenannte Adipositas-Epidemie sei dafür ein deutliches Beispiel: „Vor den 1970er-Jahren war das kein Thema in dieser Breite – und an der Genetik hat sich seither nichts geändert.“ Was sich verändert habe, sei das Umfeld: hochverarbeitetes, kalorienreiches Essen sei überall verfügbar, preiswert – und werde gezielt an Kinder vermarktet, mit Comicfiguren und Spielzeugbeigaben. Auch wenn Programme zur Gesundheitsförderung – etwa in Kitas und Schulen – Wirkung zeigten, stoße deren Einfluss dort an Grenzen, wo das Umfeld gegensätzliche Signale sende. „Deshalb müssen wir die Lebenswelten so gestalten, dass die gesunde Entscheidung einfacher wird – und die ungesunde ein bisschen schwerer.“  so lasse sich Gesundheitsverhalten wirksam auf der Bevölkerungsebene verändern.

Nach Meinung von Dr. Johannes Nießen, Leiter des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit in Köln spielen die öffentlichen Gesundheitsdienste bei der Umsetzung von Prävention vor Ort eine wichtige Rolle. „Wir versuchen, mit einfachen Mitteln die Gesundheitsämter als zentrale Multiplikatoren zu erreichen“, sagte Nießen. Über ein bundesweites Angebot werden Mitarbeitende regelmäßig zu Themen wie Hitzeschutz, Organspende oder der Jugenduntersuchung J1 informiert. Die Informationen sind praxisnah und wissenschaftlich fundiert. So erreiche man bereits jetzt bis zu tausend Fachkräfte im Monat. Es sei ein wichtiger Schritt, um präventives Wissen in die Fläche zu bringen.

Politik ist am Zug

Nach Auffassung aller Teilnehmenden sollten gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen auf der politischen Agenda ganz oben stehen. Dazu gehören Maßnahmen wie weniger Werbung für ungesunde Produkte, keine Süßigkeiten oder Schnapsfläschchen an Supermarktkassen – aber auch die Förderung von Bewegung und gesunder Ernährung im Alltag, Wohnumfeld und am Arbeitsplatz.

In Deutschland fehle es an Regulierung, während andere Länder wie Großbritannien, Frankreich, die Niederlande oder Litauen längst vorzeigten, wie es besser geht – etwa durch Werbebeschränkungen oder mehr rauchfreie Zonen im öffentlichen Raum, meinte Huizinga. Für ihn gehe es bei solchen Maßnahmen nicht um Verbote, sondern um mehr Freiheit für gesunde Entscheidungen. Politisch sei das eine zentrale Aufgabe, die derzeitige „Ungesundheitsbevormundung“ in gesundheitsförderliche Lebensverhältnisse umzuwandeln, und zwar auch dort, wo die Krankenkassen nicht unmittelbar Einfluss nehmen können. Natürlich würde es dabei auch Interessenskonflikte geben. Nicht jede Branche wird von strengeren Regeln profitieren. „Deshalb müssen wir besser erklären, dass die volkswirtschaftlichen Vorteile einer gesünderen Gesellschaft die möglichen Nachteile für einzelne Branchen deutlich überwiegen“, so Huizinga. Entscheidend sei, konkrete Einsparpotenziale und Wirkungen präventiver Maßnahmen klar zu benennen – und sie so zu gestalten, dass Erfolge noch in derselben Legislatur sichtbar würden. Nur so ließen sich parteipolitische Mehrheiten für gesunde Rahmenbedingungen schaffen.

Der erste Kongress für Prävention und Langlebigkeit markierte den Auftakt für ein neues Verständnis von Gesundheits- und Präventionspolitik. Das dort gegründete Bündnis zur Zukunft der Prävention umfasst Expertinnen und Experten aus Medizin, Forschung, Wirtschaft, Krankenkassen, Verbänden und der Zivilgesellschaft. Ihre gemeinsame Botschaft: Ein modernes Gesundheitssystem darf sich nicht länger auf das Behandeln von Krankheiten beschränken. Es muss vorbeugen, unterstützen und Menschen dazu befähigen, möglichst viele gesunde Lebensjahre zu gewinnen – unabhängig von Herkunft, Einkommen oder Bildung. Die auf dem Kongress formulierten Empfehlungen und Forderungen wurden als Berliner Erklärung veröffentlicht.

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