Artikel Pflege

Selbstbestimmte Pflege mit digitaler Unterstützung

28.10.2025 Thomas Rottschäfer 6 Min. Lesedauer

30 Jahre nach ihrer Einführung steht die soziale Pflegeversicherung (SPV) vor großen finanziellen und strukturellen Herausforderungen. Beim Pflegeforum 2025 der AOK Bayern diskutierten Expertinnen und Experten mit der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung über zukunftsfähige Konzepte. Das Motto: „Lokal. Menschlich. Digital.“

Interessierte hören der Diskussion beim Pflegeforum der AOK Bayern zu.
Beim Pflegeforum der AOK Bayern in Nürnberg diskutierten Expertinnen und Experten die Zukunft der Pflege.

Katrin Staffler brachte aus Berlin „Entwarnung“ mit. Der Pflegegrad 1 stehe nicht zur Disposition, stellte die Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung beim Pflegeform der AOK Bayern in Nürnberg klar. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reform der SPV habe darüber „nie diskutiert“. Allerdings werde darüber gesprochen, „wie wir die Leistungen am Ende des Tages ausgestalten“. Es gehe darum, das Pflegesystem so auszugestalten, „dass jeder die Leistungen bekommt, die er wirklich braucht“, betonte die CSU-Politikerin. 

Eckpunkte bis Jahresende

Der Zeitplan ist eng. Im Dezember soll die Anfang Juli einberufene Reform-Arbeitsgruppe liefern. Die Ergebnisse will die Bundesregierung noch vor Jahresende in Eckpunkte für ein SPV-Reformgesetz gießen. „Die Köpfe rauchen. Wir brüten wirklich über den Themen“, betonte Staffler. Trotz vieler Akteure mit unterschiedlichen Interessen sei allen die Zielsetzung klar: „Die Versorgung muss moderner werden. Sie muss effizienter, generationengerechter und sie muss vor allem selbstbestimmter werden. Die Leistungen müssen fair sein, sie müssen vor allem auch verständlich sein.“ Ebenso sei allen klar, „dass wir in der Pflege nicht sehr viel Geld einsparen werden können“. Mitte Oktober hatte die Arbeitsgruppe Zwischenergebnisse vorgelegt. Danach wird vor allem eine Stärkung der ambulanten Pflege angestrebt. 

Frank Firsching, Vorsitzender des Verwaltungsrates der AOK Bayern für die Versichertenseite, skizzierte die Ausgangslage: Von rund 75 Millionen Versicherten in der SPV sind derzeit 5,7 Millionen Menschen auf ambulante oder stationäre Pflegeleistungen angewiesen, im Jahr 2050 könnten es angesichts der demografischen Entwicklung neun Millionen sein. Aktuell werden 85 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt, in der Regel von Frauen. In der professionellen Pflege sind die Fachkräfte schon jetzt knapp. „Und wir wissen, dass wir immer mehr Menschen brauchen, um die beständig steigende Zahl an Pflegebedürftigen zu versorgen“, so Firsching.

Wunsch nach Pflege zu Hause überwiegt

„Wir haben heute 1,2 Millionen Menschen, die in der professionellen Pflege arbeiten“, ergänzte Staffler. In 20 Jahren seien 1,6 Millionen Pflegekräfte nötig. „Das heißt aber nicht, dass uns dann 400.000 fehlen. Man muss davon ausgehen, dass es ungefähr doppelt so viele sein werden, weil in diesem Zeitraum auch sehr, sehr viele in Rente gehen.“ Ihre Schlussfolgerung: Ohne häusliche Pflege ist das nicht zu stemmen. Dabei gehe es nicht in erster Linie um Geld: „Die allermeisten Pflegebedürftigen und auch deren Angehörige wünschten sich eine Versorgung im häuslichen Umfeld.“

Pflegende Angehörige bräuchten deshalb „dringend mehr Unterstützung beim Erwerb der dafür notwendigen Kompetenzen und bei der Gestaltung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“, forderte Firsching. Zudem gelte es, gemeinsam mit den Kommunen und der professionellen Pflege vor Ort unterstützende Strukturen für die Pflege zu Hause auf- und auszubauen.

„Wir alle müssen unseren Beitrag leisten, dass die Informationen und dann auch die Unterstützung bei den Menschen ankommen.“

Irmgard Stippler, Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern

Zusammenarbeit vor Ort verbessern

Auch die Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern, Irmgard Stippler, verdeutlichte die Bedeutung verlässlicher regionaler und lokaler Netzwerke. Deshalb seien in das von der AOK unterstützte Konzept der „Caring Communities“ auch Nachbarschaftsnetzwerke und die Selbsthilfe eingebunden. Die SPV-Reform müsse die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Pflegekassen weiter verbessern sowie Gesundheitsregionen und Pflegekonferenzen stärken, forderte Stippler. Zudem müssten Pflegeleistungen klarer gegliedert werden. Sie warnte davor, bei den Plänen für ein sektorenübergreifendes Pflegebudget übers Ziel hinauszuschießen und einen dritten Versorgungssektor nebst neuen Schnittstellen zu schaffen. Auch in der Pflege müsse es das Ziel sein, das Sektorendenken zu überwinden.

„Wir alle müssen unseren Beitrag leisten, dass die Informationen und dann auch die Unterstützung bei den Menschen ankommen“, betonte die AOK-Vorständin. Die AOK trage dazu mit umfassender Pflegeberatung und Präventionsangeboten für pflegende Angehörige, aber auch für die professionelle Pflege bei. Die Unterstützung erfolge – nicht zuletzt durch den Corona-Schub – zunehmend digital. Daneben gebe es aber weiterhin ganz persönlich die Hilfe durch AOK-Pflegeberaterinnen und -berater vor Ort.

Viele junge Menschen in die Pflege eingebunden

Wie vielschichtig die häusliche Pflege ist, verdeutlichte beim AOK-Pflegeforum Petra Schmieder-Runschke. Die Vorsitzende der „An Deiner Seite Stiftung“ lenkte den Blick auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die daheim in die Betreuung eines Elternteils oder anderer Familienangehöriger eingebunden sind. Das von der AOK Bayern 2024 prämierte Stiftungsprojekt „Young Carer Coach“ vernetzt junge Menschen mit Sorge- und Pflegeverantwortung und informiert über Unterstützungsangebote

Entlastung durch Digitalisierung

Entlastung für alle Beteiligten versprechen sich Politik und Pflegekasse durch die Digitalisierung. Ohne den Faktor Mensch zu vernachlässigen, böten digitale Lösungen die Möglichkeit, Informationen besser aufzubereiten, Unterstützung schneller zu vermitteln und Pflegekräfte von zeitraubenden Verwaltungsaufgaben zu entlasten. Als Beispiel dafür stellte Mitentwickler Marcus C. Müller die Pflege-App NUI vor. Die Smartphone-Anwendung verknüpft verständliche Infos über die SPV-Leistungen – einschließlich Online-Antragstellung – mit Grundwissen über altersbedingte Erkrankungen, Chatbot-Funktionen und persönlicher Beratung. Überdies können die Nutzer sich ein eigenes Pflege-Netzwerk einrichten. Für Versicherte der AOK Bayern ist die inzwischen deutschlandweit verfügbare Anwendung kostenlos. 
 
Über Entwicklungsstand und Einsatzmöglichkeiten des bereits bundesweit bekannten Pflegeroboters Garmi informierte Alexander Huhn. „In zehn Jahren ist Garmi im praktischen Einsatz“, zeigte sich der Geschäftsführer und Projektleiter für robotische Assistenzsysteme beim Caritasverband für das Erzbistum München zuversichtlich. Aktuell wird der „Humanoid“ in Senioreneinrichtungen in Garmisch-Patenkirchen, Garching und München erprobt. Seine Aufgaben: Entlastung von Senioren bei Alltagsaufgaben, Hilfe bei Rehabilitationsübungen oder Unterstützung eines „telemedizinischen Arztbesuches“. Dazu ist der Roboter mit EKG-, Blutdruck und Ultraschallmessgeräten sowie Sensoren ausgestattet, die im Notfall schnelle Hilfe ermöglichen.

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Flaute bei den Dipas

Dagegen haben Digitale Pflegeanwendungen (Dipas) auch vier Jahre nach ihrer gesetzlichen Einführung keinen Wind in den Segeln. „Bisher ist noch keine Dipa zertifiziert worden“, bedauerte Katrin Staffler. Das liege vor allem an „zu strengen Auflagen“ und den hohen Kosten für die Medizinprodukte-Zulassung, bemängelte der aus Zypern nach Nürnberg zugeschaltete Professor Nils Lahmann von der Charité Berlin. „Wir müssen für unsere Pflege und Gesundheit mehr Digitalisierung wagen“, forderte der stellvertretende Direktor der Forschungsgruppe Geriatrie. Er rief dazu auf, bei digitalen Innovationen die Chancen und nicht „übertriebenen Datenschutz“ und andere Risiken in den Mittelpunkt zu stellen.

Signal, bevor „es passiert“

Als Beispiele nannte der Pflegewissenschaftler eine Anwendung zur Überwachung der Blase. „70 Prozent der Menschen im Pflegeheim leiden unter Harninkontinenz. Der Sensor funktioniert wie eine umgekehrte Tankuhr und gibt ein Signal, wenn die Blase voll ist. Die Leute können auf die Toilette gehen, bevor es passiert.“ Bei der Erprobung habe sich gezeigt, dass die Betroffenen auch wieder ausreichend tranken, weil sie keine Angst mehr haben müssten, dass die Blase überlaufe.

 
Ein weiteres Beispiel: eine Sensorikmatte für Pflegebetten, die Bewegungen erfasst. Sie könne einerseits helfen, das Wundliegen (Dekubitus) zu verhindern, so Lahmann. Andererseits könnten Pflegekräfte dank der Daten auf rein routinemäßiges, aber wegen ausreichender eigener Bewegungen oft nicht nötiges Wenden von Patienten verzichten „Möglicherweise ist unser Problem nicht der Mangel an Pflegepersonal, sondern deren falsche Allokation“, sagte Lahmann. „Der gezielte Einsatz innovativer Technik kann dazu beitragen, dass die tatsächlich benötigte Hilfe zur richtigen Zeit beim richtigen Pflegebedürftigen von der adäquat ausgebildeten Person erfolgt.“

Vertrauen in die Versorgung stärken

Das Pflegeforum 2025 verdeutlichte die großen Erwartungen an die Reform der sozialen Pflegeversicherung. Die Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung gab zum Abschluss noch einmal die Richtung vor: „Wir brauchen den gemeinsamen Mut, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass wir den Menschen die Zuversicht und das Vertrauen geben, dass sie auch in den nächsten Jahren noch gut versorgt sind.“ Leitplanken für das Gelingen gab ihr die AOK-Veranstaltung mit auf den Rückweg nach Berlin: „Lokal. Menschlich. Digital.“

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