„Es fehlen uns gute Pflegedaten in der Breite“
Künstliche Intelligenz (KI) kann in der Pflege vielfach unterstützen. Doch noch stecken Entwicklung und der praktische Einsatz weitgehend in den Kinderschuhen. Pflegewissenschaftlerin Dr. Kathrin Seibert erklärt im Interview mit G+G, wo genau es hakt.
Was kann Künstliche Intelligenz in der Pflege leisten?
Dr. Kathrin Seibert: Künstliche Intelligenz, also verschiedene technologische Systeme, die auf KI-Methoden aufbauen, können ganz viel in der Pflege leisten. Sie können beispielsweise die Organisation und Steuerung von Pflegeprozessen unterstützen. Oder dazu dienen, in der ambulanten Versorgung eine intelligente Tourenplanung für Pflegedienste zu erstellen. Sie können auch in Online-Portalen zielgruppengerechte Informationen bereitstellen. KI kann die Pflegedokumentation unterstützen, indem über die Sprache wichtige Informationen einfach eingegeben werden können.
KI kann konkret Pflegefachpersonen bei ihrer Arbeit helfen. Wie bei klinischen Entscheidungsunterstützungssystemen, die dabei helfen, durch das Foto einer Wunde die Wundart zu bestimmen, um dann geeignete Wundauflagen vorzuschlagen. Es gibt auch KI-Systeme, die sehr gut darin sind, sich anbahnende Risiken frühzeitig zu erkennen. Sie weisen beispielsweise bei pflegebedürftigen Personen auf eine mögliche Sturzgefahr hin.
Welche smarten Lösungen gibt es noch?
Seibert: Für Menschen mit Demenz kommen sogenannte soziale oder emotionale Roboter zum Einsatz. Prominente Beispiele sind hier der Robben-Roboter PARO oder der humanoide Roboter Pepper. Auch auf virtueller Realität aufbauende Spiele werden eingesetzt, um kognitive Fähigkeiten zu aktivieren.
Aber es gibt auch Einsatzmöglichkeiten im häuslichen Bereich, etwa um zu prüfen, ob der Herd abgeschaltet ist. Oder wenn eine Kühlschranktür lange nicht geöffnet wurde, kann dies ein Hinweis sein, dass die pflegebedürftige Person Unterstützung braucht.
Wir haben somit gerade in Hinblick auf die Sicherheit von Pflegebedürftigen mit KI noch eine Technologie mehr, die uns hilft, dass diese Person sich sicher fühlt und Hilfe zeitnah und schnell vor Ort sein kann.
Was ist der nächste große Sprung bei KI in der Pflege?
Seibert: Meines Erachtens müssen wir prinzipiell die Digitalisierung vor allem von Pflegeeinrichtungen der Langzeitpflege vorantreiben. Wir sehen große Unterschiede im Digitalisierungsgrad von Pflegeheimen, Pflegediensten, auch in Kliniken, aber das Problem liegt eher in der Langzeitpflege. Es braucht Voraussetzungen, mit solchen Systemen überhaupt arbeiten zu können. Das geht beim Ausbau der technischen Infrastruktur los. Wir müssen aber auch einen Wissens- und Kompetenzaufbau bei den Pflegefachpersonen betreiben. Und dann stellt sich die Frage nach der Effizienz. Uns fehlt tatsächlich Forschung dazu, welche Effekte der Langzeit-Einsatz dieser KI-Technologien in der Regelversorgung hat.
Wie ist generell der Stand der Forschung?
Seibert: Zurzeit gibt es viel Forschung und Entwicklung in diesem Bereich, wo wir Systeme erst in der Entwicklung haben, die noch nicht am Markt verfügbar sind. Hier ist es oft so, dass sich Kliniken, Pflegeheime, Pflegedienste als Partner an Forschungsprojekten beteiligen, um diese Technologien bei sich im Alltag zu erproben. So können sie am Puls der Zeit bleiben und laufende Entwicklungen begleiten.
Wo hakt es noch?
Seibert: Die Forschung zu KI in der Pflege ist in Deutschland, aber auch international zurzeit noch an einem Punkt, wo wir uns sehr oft mit der Frage beschäftigen: Funktionieren die Algorithmen so, wie wir es von ihnen erwarten? Können sie beispielsweise korrekt den Sturz der pflegebedürftigen Person anzeigen? Ist die vorgeschlagene Route für die smarte Tourenplanung des Pflegedienstes tatsächlich die beste?
Wir haben aber wenig Forschung, die sich anguckt: Jetzt bringen wir diese Systeme mal ein halbes Jahr, ein Jahr, anderthalb Jahre ins Feld und schauen uns dann die Effekte in der Regelversorgung an. Die Nutzenerwartung ist sehr hoch. Die empirische Evidenz fehlt uns an vielen Stellen aber noch.
Wie steht es um die Datengrundlage?
Seibert: Es fehlen uns noch gute Pflegedaten in der Breite in Deutschland, aber auch weltweit, aus denen KI-Systeme lernen können. Es gibt Initiativen in Deutschland, die versuchen, genau solche Daten für die Forschung mehr nutzbar zu machen. Der Deutsche Pflegerat unterstützt die Forderung nach einer Pflege-Informatik-Initiative, die eben genau das möglich macht, Zugang zu Datensätzen zu erhalten, aus denen wir Informationen für das Training solcher KI-Systeme auch nutzen können oder diese dafür nutzbar machen. Aber das steckt zurzeit noch in den Kinderschuhen.
Wann könnte KI Teil der Regelversorgung sein?
Seibert: In Perspektive könnte KI in den nächsten fünf bis zehn Jahren in die Regelversorgung einziehen. Denn immer mehr Träger von Pflegeeinrichtungen machen sich auf den Weg, überhaupt Digitalisierungs- und KI-Strategien auszuarbeiten und die dann auch umzusetzen. Das wird flankiert von Gesetzgebungen, die den Weg da ein bisschen freimachen und ebnen.
„Die Kernforderung an die Politik ist es, ein sogenanntes Pflegedatengesetz voranzutreiben.“
Pflegewissenschaftlerin
Was muss die Politik tun?
Seibert: Die Kernforderung, die auch die Pflege-Informatik-Initiative stellt, ist es, ein sogenanntes Pflegedatengesetz voranzutreiben, so dass es praktisch auch für den Zugang zu Pflegedaten eine rechtliche Grundlage gibt, analog zum Paragrafen 64e SGB V für Datenzugang, Governance und die verpflichtende Dateneinspeisung durch Einrichtungen, auf die man dann zugreifen kann. Eine weitere Forderung ist ein Bundesförderprogramm für Infrastruktur sowie ein gezielter Ausbau von Studienplätzen, Professuren und Promotionsprogrammen, um Pflegeinformatik als Disziplin dauerhaft zu verankern. Die Forschenden, die wir bis jetzt vereinzelt haben, sind zu wenige, wenn wir immer wieder betonen, wie wichtig dieses Feld eigentlich ist und was für unausgeschöpftes Potenzial da noch liegt für die Entwicklung solcher Systeme.
Die Pflegereform, die die Politik aktuell erarbeitet, zielt auch auf Prävention ab. Was kann KI da beisteuern?
Seibert: Zurzeit stehen Anwendungen im Vordergrund der Entwicklungen, die auf die dringende Versorgungslage eine Antwort liefern sollen. Aber wir können die KI-Systeme auch dafür nutzen, präventiv wirksam zu werden. Der Vorteil liegt darin, Daten über längere Zeiträume zu monitoren, zu beobachten, Muster zu erkennen und das früher, als wir Menschen das häufig können. So erhalten wir frühzeitig Hinweise darauf, wenn sich Unterstützungsbedarfe abzeichnen durch physische oder kognitive Veränderungen. So können wir Präventionsangebote viel eher als unter aktuellen Umständen machen.
In der Bevölkerung besteht auch Skepsis gegenüber KI in der Pflege, zeigen Umfragen.
Seibert: Das ist aus meiner Sicht gar kein pflegespezifisches Problem, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, uns damit auseinanderzusetzen. Was heißt das eigentlich, wenn wir solche Technologien immer mehr in unser Leben integrieren? Und wo wollen wir das? Wo wollen wir das vielleicht auch nicht? Da müssen die Sorgen und Bedenken gehört werden und ernst genommen werden.
Wir müssen aber auch in Anbetracht des Fachkräftemangels gucken, wie es trotzdem mit KI gehen kann, denn wir kommen nicht drumrum. Von daher appelliere ich an alle, sich zu informieren.
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