Interview Pflege

Neue Wohnformen in der Pflege: Beistand sorgt für stabile Gemeinschaft

17.11.2025 Änne Töpfer 5 Min. Lesedauer

Eine Wohngemeinschaft kann für Menschen mit Demenz eine Alternative zur stationären Pflege sein. Damit das Zusammenleben klappt, berät Monika Schneider von der „Wohnkonzepte Schneider gGmbH“ solche Gemeinschaften. Denn die Bewohnerinnen und Bewohner beziehungsweise ihre Angehörigen müssen von der Anmietung der Wohnung über die Beauftragung eines Pflegedienstes bis hin zur Verwaltung der Haushaltskasse alles selbst organisieren.

Zwei ältere Frauen sitzen an einem Tisch in einem hellen Raum mit großen Fenstern.
Wohngemeinschaften ermöglichen Menschen mit Demenz und Pflegebedarf ein selbstbestimmtes Zusammenleben.
Monika Schneider, Geschäftsführerin von Wohnkonzepte Schneider gGmbH
Monika Schneider, Geschäftsführerin von Wohnkonzepte Schneider gGmbH

Wie wollen Sie selbst im Alter bei Pflegebedürftigkeit wohnen?

Monika Schneider: Wenn ich eine Demenz entwickeln sollte, möchte ich unbedingt in eine Demenz-WG. Dort herrscht eine beruhigende Atmosphäre, man kocht und isst gemeinsam. Ohne Demenz, aber mit körperlichen Einschränkungen, würde ich gern in einer barrierefreien Wohnung leben, möglichst in einem Wohnprojekt, in dem es einen Gemeinschaftsraum, Gästezimmer und eine gute Nachbarschaft gibt.

Welche Aussicht besteht, diese Wünsche und Bedürfnisse erfüllt zu bekommen?

Schneider: Das Schicksal begünstigt einen vorbereiteten Geist: Es ist gut, sich frühzeitig mit den Wohnmöglichkeiten zu beschäftigen. Ich bin gerade 60 geworden, da ist das schon ein Thema. Wenn man ein gemeinschaftliches Wohnprojekt auf den Weg bringen will, ist es mit 60 höchste Zeit, denn es dauert fünf bis zehn Jahre, bis das läuft. Grundsätzlich haben wir in Deutschland zu wenig altersgerechte Wohnungen. Der Wohnungsbestand ist in weiten Teilen nicht barrierefrei, der Anteil liegt deutlich unter zehn Prozent. Und es gibt relativ wenige Wohngemeinschaften für Menschen mit Unterstützungs- und Pflegebedarf.

Sie bieten Beratung zum Wohnen im Alter und bei Pflegebedürftigkeit. Welche Fragen stehen im Vordergrund?

Schneider: Die Wohnungsunternehmen wollen wissen, welche Wohnformen für die Mieter oder Genossenschaftsmitglieder interessant sind. Jetzt kommen viele darauf, dass eine Wohngemeinschaft für Pflegebedürftige oder Menschen mit Demenz eine gute Ergänzung für ihr Portfolio ist. Viele beschäftigen sich mit dem Angebot von Tagespflege oder von Gemeinschaftsräumen. Und dann ist die Frage: In welcher Lage, in welchem Preissegment? Gibt es ein entsprechendes Grundstück oder irgendwelche Ressourcen, auf denen das umgesetzt werden kann?

„Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sind in der Pflegesituation nicht allein - sie haben sowohl den Pflegedienst als auch die anderen Angehörigen an ihrer Seite. Das ist eine große Ressource.“

Monika Schneider

Geschäftsführerin von Wohnkonzepte Schneider gGmbH

Suchen auch Bauherren-Gemeinschaften Rat, deren Mitglieder selbst einziehen wollen?

Schneider: Ja, es gibt gemeinschaftliche Wohnprojekte. Sie fragen, wie barrierefrei die Gebäude sein müssen, ob ein Aufzug nötig ist. Es geht auch immer wieder darum, wie das Zusammenleben zu organisieren ist. Wenn es Gruppen sind, die nicht als Bauherrengemeinschaft auftreten, wollen sie wissen, wie sie dem Wohnungsunternehmen gegenübertreten. Sollen sie einen Generalmietvertrag abschließen? Mein Job als Beraterin von Gründungswilligen ist es, realistische Ziele zu formulieren. Das Grundstück in Köln, links vom Dom, zu zwölf Euro den Quadratmeter ohne Wohnberechtigungsschein – das gibt es nicht. Bei vielen Leuten ist noch nicht angekommen, wie sich der Wohnungsmarkt entwickelt hat und was das für sie bedeutet.

Was bewegt Angehörige von pflegebedürftigen Menschen?

Schneider: An erster Stelle steht die Frage: Kann ich mir das leisten? Danach: Wie sicher ist das? Und wie komme ich da rein? Kann mein Angehöriger dort bis zum Lebensende bleiben oder muss er noch einmal umziehen? Dass Wohngemeinschaften auch Engagement der Angehörigen erfordern, spielt meist eine untergeordnete Rolle. Es ist unsere Aufgabe das Konzept zu transportieren: Eine Wohngemeinschaft ist kein Kleinstheim - ohne Engagement klappt das nicht.

Wie verbreitet sind Wohngemeinschaften für Pflegebedürftige in Deutschland?

Schneider: Es gibt keine verlässlichen Statistiken. Selbstverantwortete Wohngemeinschaften – also von Bewohnerinnen und Bewohnern selbst organisiert – fallen nicht unter das Heimgesetz und müssen kaum gemeldet werden. Nur bei trägerverantworteten WGs, also wenn ein Anbieter oder Wohnungsunternehmen die Verantwortung trägt, besteht in manchen Bundesländern eine Anzeigepflicht für trägerverantwortete Wohngemeinschaften, beispielsweise hier in Nordrhein-Westfalen. Aber bundesweit sind das immer nur Schätzungen.

Stehen alternative Wohnformen für Pflegebedürftige noch ganz am Anfang oder ist das ein Trend?

Schneider: In Berlin ist das ein Megatrend – dort gibt es Hunderte solcher WGs. Das hat auch etwas damit zu tun, dass Berlin die Finanzierung für Wohngemeinschaften geregelt hat. Nordrhein-Westfalen liegt im Mittelfeld, hat aber gute rechtliche Rahmenbedingungen und eine starke Wohnungsbauförderung, die es ermöglicht, Wohngemeinschaften neu zu bauen. In Bayern existiert ein Förderprogramm für die Neuschaffung von Pflegeplätzen – dazu gehören auch Wohngemeinschaften. Dort gibt es zudem eine Anschubfinanzierung für die Beratung und Moderation von Wohngemeinschaften. In Sachsen dagegen ist die Gesetzgebung restriktiv, weshalb dort wahrscheinlich am wenigsten Wohngemeinschaften gegründet worden sind.

Sie haben das vom GKV-Spitzenverband geförderte Modellprogramm zur Weiterentwicklung neuer Wohnformen begleitet. Welche Erfolgsfaktoren haben Sie dabei ausgemacht?

Schneider: Entscheidend sind Transparenz und klare Strukturen. Wohngemeinschaften sind komplexe Gebilde aus Bewohnern, Angehörigen, Pflegediensten und Wohnungsunternehmen. Es braucht Verständnis für die Perspektiven der jeweils anderen. Wir haben ein sogenanntes Beistandsmodell entwickelt. Die Wohngemeinschaften aus dem Modellprogramm sind als Gesellschaften bürgerlichen Rechts organisiert und mieten die Wohnungen in vielen Fällen auch an. Da ist es wichtig, Übersetzungsarbeit zu leisten und Transparenz zu schaffen für die Perspektive aller Beteiligten. Mit unserem Beistandsmodell haben wir die Wohngemeinschaften stärken können.

Müssen Bewohner oder Angehörige sich gut mit dem Leistungsrecht auskennen, wenn sie in einer Wohngemeinschaft leben wollen?

Schneider: Gewisse Grundkenntnisse sind nötig. In einer ambulanten Wohnform, die ja ein Großhaushalt ist, müssen Anträge gestellt und Finanzen selbst verwaltet werden. Dazu gehören Haushaltskasse, Rücklagen für Anschaffungen oder Reparaturen – man bleibt verantwortlich. Das ist das Schöne, aber auch Herausfordernde an dieser Wohnform. Die Bewohner entscheiden selbst, wie sie den Gemeinschaftsbereich nutzen wollen oder was sie machen, wenn beispielsweise die Waschmaschine kaputtgeht oder die Küche renoviert werden muss. Da ist eine Moderation wichtig. Auch trägerverantwortete WGs sollten eine externe Begleitung haben – ähnlich einer Hausverwaltung. Viele Bewohner und Angehörige haben wenig Gemeinschaftserfahrung. Ohne klare Regeln und Vermittlung funktioniert das nicht.

Vermutlich ist eine große Kompromissbereitschaft gefragt.

Schneider: Ja, aber man bekommt auch viel geschenkt. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sind in der Pflegesituation nicht allein. Sie haben sowohl den Profi-Pflegedienst an ihrer Seite als auch die anderen Angehörigen. Das ist eine große Ressource. Wenn sich jemand schwertut mit der Demenz seiner Mutter oder der Hilfsbedürftigkeit seines Vaters, tut es gut, in einer Gruppe von Gleichbetroffenen zu sein.

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Sind Wohngemeinschaften auch wirtschaftlich tragfähig?

Schneider: Ja, trotz höherer Personalkosten. Eine Nachtwache für zehn Bewohner mag teuer erscheinen, aber kleine Einheiten sind handhabbarer und flexibler. Angehörige können Aufgaben übernehmen oder im Notfall einspringen. Das schafft Stabilität. Wir begleiten Gruppen, da kochen die Angehörigen. Wenn der Pflegedienst drei Stunden Supervision hat, übernehmen solange die Angehörigen. Nicht alle wollen und können das, denn die meisten sind ja berufstätig. Aber man kann sich schon unterstützen, man kann Dinge besser miteinander organisieren.

Welche Hürden sind in Deutschland zu überwinden, um neue Wohnformen in der Pflege zu etablieren?

Schneider: Das größte Problem ist die strikte Trennung nach Leistungen und Kostenträgern (SGB XI und SGB V). Das System ist unübersichtlich, die Leistungen schwer durchschaubar. Ich wünsche mir mehr Vertrauenskultur und ein persönliches Budget, wie in der Eingliederungshilfe. Zu viel Geld fließt in Kontrolle statt in Pflege. Wenn viele Pflegekräfte selbst nicht in die Heime ziehen wollen, in denen sie arbeiten, ist das ein Warnsignal.

Brauchen wir dennoch stationäre Einrichtungen?

Schneider: Ja, unbedingt. Wir sollten nicht das eine gegen das andere ausspielen. Wohngemeinschaften sind kein Ersatz, sondern eine Ergänzung. Manche Menschen brauchen die stationäre Versorgung. Aber wir sollten die Systeme durchlässiger machen. Zwischen Reha, Kurzzeitpflege, WG und Heim muss es Übergänge geben. So könnten mehr Menschen so wohnen, wie es zu ihnen passt. Die Babyboomer-Generation hat sehr unterschiedliche Bedarfe. Es wäre gut, wir würden uns darauf vorbereiten, welche Bedarfe und Bedürfnisse das sind.

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