Babyboomer als „Gamechanger“
Fachpersonal und Plätze in der stationären Pflege sind knapp, der finanzielle Eigenanteil der Pflegebedürftigen steigt. Auch das Saarland setzt deshalb auf vernetzte Prävention, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder hinauszuzögern. Auf der Veranstaltung „AOK im Dialog“ der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland diskutierten Beteiligte in Saarbrücken über anstehende Aufgaben und konkrete Projekte.
„Quo vadis Pflege?“ – Grundsätzliche Antworten auf die Leitfrage der Veranstaltung formulierte die Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland, Martina Niemeyer, schon gleich zu Beginn. Um Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, komme der Prävention eine immer größere Bedeutung zu. „Pflege ist individuell und herausfordernd. Sie erfordert ein starkes Netzwerk aus Pflegeangeboten, familiärem Umfeld sowie Kranken- und Pflegekassen“, so Niemeyer. Es sei „unerlässlich, neue Strukturen zu entwickeln, die mehr Effizienz in die Pflege bringen“.
Angesichts der bestehenden Herausforderungen gelte es, Pflege und soziale Pflegeversicherung zukunftsfest weiterzuentwickeln. „Die Pflegebedürftigen stehen dabei im Zentrum unseres Handelns“, betonte die Vorständin. Die AOK als größte Pflegekasse des Landes verstehe sich „als Lotse für die Inanspruchnahme der verschiedenen Leistungen“ und als Partner der Kommunen bei der gemeinsamen Bedarfs- und Sorgestrukturplanung. Im Saarland geht es dabei um derzeit rund 70.000 pflegebedürftige Menschen. 86 Prozent von ihnen werden zu Hause betreut, überwiegend durch Angehörige – allein oder mit abgestufter Unterstützung durch ambulante Pflegedienste.
Länder-Kritik an sektoralen Strukturen
Die Vision eines präventiven Netzwerkes mit besserer Zusammenarbeit aller Beteiligten für die Pflege vor Ort wird noch getrübt von einer stark sektoral geprägten Versorgung. Nicht nur die AOK kritisiert das. Geht es nach Thomas Müller, hat das Schubladendenken keine Zukunft. Der Abteilungsleiter Pflege im saarländischen Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Gesundheit ist fachlich in die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform eingebunden. Mitte Dezember soll das Gremium Ergebnisse liefern. Bei der AOK-Veranstaltung zeigte sich Müller wenig begeistert vom Hybrid-Konzept einer „stambulanten Versorgung“. Dabei leben Pflegebedürftige in gemeinsamen Wohneinheiten, werden aber ambulant versorgt. „Das verfestigt nur wieder bestehende Strukturen“, bemängelte Müller. Deshalb seien sich „auf der Fachebene alle Länder einig, dass die Sektorengrenzen fallen müssen“. Doch müsse sich das am Ende auch finanzieren lassen.
Generationen-Berater in den Kommunen
Der Ministeriumsvertreter warnte vor zu großen Reformerwartungen: „Wir werden am 11. Dezember gute Vorschläge bekommen. Aber damit lösen sich nicht auf einen Schlag alle Probleme in Luft auf.“ Die Politik könne nur Weichen stellen. Die konkrete Umsetzung sei Aufgabe der Beteiligten vor Ort. Die kommunale Pfegeplanung sei dabei für ihn der entscheidende Ansatzpunkt.
Müller warb für das 2025 gestartete Landesprogramm „Saar66“. „Wir versuchen, in allen Kommunen des Saarlandes sogenannte Generationen-Berater zu installieren.“ Aufgabe dieser hauptamtlichen Beraterinnen und Berater sei es, Netzwerke zu knüpfen, um ältere Menschen aktiv einzubinden und Präventionsmaßnahmen zu koordinieren. In solchen Verbünden komme dem Ehrenamt und speziell den Baby-Boomern eine wichtige Rolle zu.
Auch aus Sicht der AOK könnten die jetzt ins Rentenalter wechselnden Boomer auf dem bevorzugten Weg zu „Caring Communities“ eine Gamechanger-Rolle spielen. Nach einer Forsa-Befragung für den Pflege-Report 2024 gibt es in dieser Altersgruppe eine besonders große Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement.
Keine Konkurrenz zur professionellen Pflege
Beim Aufbau von Netzwerken und ehrenamtlichen Strukturen gehe es keineswegs um kostengünstigen Ersatz für die professionelle Pflege, griff Müller entsprechende Kritik aus dem Publikum auf. Angesichts der demografischen Entwicklung gelte es, einen weiter zunehmenden Fachkräftemangel abzufedern, sagte er in der Podiumsdiskussion mit Jürgen Stenger von der Saarländischen Pflegegesellschaft, Alfred Klopries, Direktor Unternehmenskultur der BBT-Gruppe, und AOK-Vorstand Udo Hoffmann.
Stenger verwies in der Runde auf einen Wandel in der Wahrnehmung der Pflegeberufe und ein neues Selbstbewusstsein der Branche. Vor allem die bessere Bezahlung sorge für einen Nachwuchs-Schub. Mittlerweile stehe die Pflegeausbildung an der Spitze aller dreijährigen Ausbildungsberufe. „Wer heute eine Pflegeausbildung beginnt, kann sicher sein, dass er in diesem Bereich sein Berufsleben lang tätig sein kann und auch attraktive Aufstiegsmöglichkeiten findet“, so Stenger. In der saarländischen Industrie sehe das derzeit ganz anders aus. Aus Sicht der Arbeitgeber warb Klopries für eine neue Unternehmens- und Führungskultur im Umgang mit Beschäftigten.
„Der Markt wird es nicht richten“
Über konkrete Projekte zur Verknüpfung von Leistungen ambulanter und stationärer Pflege unter Einbeziehen lokaler Organisationen, Vereine oder Hospize berichtete Ruth Klein, Leitung Fachbereiche Teilhabe und Seniorendienst der BBT-Trägergruppe. Sie warnte, dass Plätze in stationären Einrichtungen künftig noch knapper würden. Diese Plätze müsse man zunehmend „für Menschen mit extrem hohem Pflegebedarf“ vorhalten. „Das wird der Markt nicht nicht richten, wir müssen genau überlegen, wie wir das steuern.“
„Das Pflegesystem ist überwiegend auf die Versorgung von Defiziten bei alten Menschen ausgerichtet. Wenn Pflegebedürftigkeit eingetreten ist, beginnt in der Regel die Versorgung“, erläuterte AOK-Vorstand Udo Hoffmann. „Das ist der falsche Weg.“ Der richtige Ansatz liege in der Prävention. „Ziel muss sein: Prävention vor Reha und Reha vor Pflege“, so Hoffmann. Es gelte, die Menschen durch körperliche Aktivitäten, soziale Teilhabe, Vermeiden von Einsamkeit und gesunde Ernährung möglichst lange gesund, mobil und geistig leistungsfähig zu halten. „Damit bleiben sie länger selbstständig. Das ist auch ein Gewinn an Lebensqualität.“ Um einen entsprechenden Rahmen zu schaffen, sei die AOK mit vielen Beteiligten im Land im Gespräch.
Routinedaten zur Qualitätssicherung nutzen
Susann Behrendt vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) rief in Saarbrücken dazu auf, die Routinedaten der Pflegekassen konsequent für die Qualitätssicherung in der stationären Pflege zu nutzen. Die Leiterin des Forschungsbereichs Pflege stellte regionale Daten für das Saarland aus dem 2023 erstmals veröffentlichten WIdO-Qualitätsatlas Pflege vor. Die auch online verfügbaren Daten auf Basis der AOK-Versicherten ermöglichen über Sektoren und Berufsgruppen hinweg Qualitäts- und Defizitanalysen bis auf die Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte.
Als Beispiel erläuterte Behrendt unter anderem Zahlen zur Verordnung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln in Pflegeeinrichtungen. Im Mittel erhalte jede zehnte Person im Pflegeheim solche Präparate – verbunden mit den Gefahren von Abhängigkeiten und Entzugserscheinungen beim Absetzen, Sturzgefahr und Verlust an Lebensqualität. Besonders die große Gruppe der an Demenz erkrankten Pflegeheimbewohner sei betroffen. Der Landkreis mit der höchsten Verordnungsrate befindet sich nach WIdO-Daten im Saarland. In diesem Bundesland komme „jede zweite Person am Ende des Lebens noch mal ins Krankenhaus“, erläuterte die WIdO-Expertin. Der Qualitätsatlas Pflege lasse entsprechende Rückschlüsse auf unzureichende gesundheitliche Vorausplanung und Versorgungsstrukturen zu – etwa in Bezug auf die Palliativversorgung.
Analysen für Verbesserungen nutzen
In der Analyse von Ursachen für Qualitätsdefizite gehe es nicht um Schuldzuweisung, betonte Behrendt. Sie warb dafür, die vorhandenen und für die Einrichtungen mit keinerlei zusätzlichem Dokumentationsaufwand verbundenen Routinedaten in geeigneten Diskursformaten mit allen Beteiligten für konkrete Verbesserungen zu nutzen.
Nach dem Qualitätsatlas für die stationäre Pflege plane das WIdO für 2026 ein entsprechendes Analyse-Tool für die ambulante Versorgung, kündigte Behrendt an. Da sich die ambulante Pflege überwiegend in Privathaushalten abspiele, sei das „eine ungleich größere Blackbox“. In der kommunalen Pflegeplanung dürften die Daten hochwillkommen sein. Für die Verwendung hat der Bundestag gerade erst den Weg frei gemacht. Das am 6. November verabschiedete Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung in der Pflege (BEEP) stärkt die Rolle der Kommunen und erleichtert das Einbeziehen von Versorgungsdaten der Kranken- und Pflegekassen in die Pflegestrukturplanung vor Ort.
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