Interview Pflege

„Pflege geht uns alle an“ – Mehr Aufmerksamkeit für pflegende Angehörige

23.10.2025 Tina Stähler 5 Min. Lesedauer

Millionen Menschen in Deutschland übernehmen die Pflege von Angehörigen oder nahestehenden Personen – meist unbezahlt und oftmals zusätzlich zu ihrer Erwerbstätigkeit. Eine Studie auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels macht deutlich: Ohne diese Angehörigenpflege wäre das deutsche Pflegesystem kaum tragfähig. Im Interview mit G+G spricht Dr. Ulrike Ehrlich darüber, warum Pflege weiterhin überwiegend von Frauen geleistet wird, weshalb das diskutierte Familienpflegegeld nur ein erster Schritt sein kann und welche Maßnahmen für eine tragfähige Pflege notwendig sind.

Eine Frau kämmert einer älteren Frau die Haare.
Nach wie vor pflegen meist Frauen ihre Angehörigen.
Porträt von Ulrike Ehrlich, wissenschafwissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA)
Dr. Ulrike Ehrlich, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA)

Frau Dr. Ehrlich, welche Gruppen von Angehörigen übernehmen besonders häufig die Pflege von Familienmitgliedern? 

Dr. Ulrike Ehrlich: Fast drei Viertel der pflegenden Angehörigen sind nahe Angehörige. In fast der Hälfe der Fälle (45 Prozent) kümmern sich erwachsene Kinder um ihre Eltern. Knapp jeder vierte Ehe- oder Lebenspartner beziehungsweise -partnerin (23 Prozent) pflegen einander und in etwa acht Prozent der Fälle pflegen Eltern das eigene Kind. Aber auch weiter entfernte Verwandte oder Freundinnen und Freunde werden unterstützt und gepflegt. In den meisten Fällen unterstützen weibliche An- und Zugehörige die Pflegebedürftigen. Die Pflegenden sind durchschnittlich zwischen 50 und 65 Jahre alt und zum Teil noch erwerbstätig.    

Wie kommt es, dass nach wie vor hauptsächlich Frauen ihre An- und Zugehörigen pflegen?

Ehrlich: Frauen pflegen häufiger als Männer, weil traditionelle Geschlechterrollenzuschreibungen, aber auch geschlechtsspezifische Normen und Sozialisation noch immer eine große Rolle spielen. Hinzukommt, dass Frauen aufgrund anhaltender geschlechtsspezifischer Erwerbs- und Lohnunterschiede aus haushaltsökonomischen Gründen häufiger Pflegetätigkeiten übernehmen. Auch politische Regelungen, wie das Ehegattensplitting oder die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnerinnen und -partnern in der gesetzlichen Krankenversicherung tragen dazu bei.

Wie stark wirkt sich die Angehörigenpflege allgemein auf das Berufsleben und die finanzielle Situation der Pflegenden aus?

Ehrlich: Pflegende Angehörige im erwerbsfähigen Alter sind seltener erwerbstätig als Menschen ohne Pflegeverpflichtungen, auch wenn sich das in den letzten zwanzig Jahren geändert hat: Immer mehr Menschen versuchen, Pflege und Beruf unter einen Hut zu bringen. Forschungsergebnisse zeigen aber auch, dass es hier zu einem Vereinbarkeitskonflikt kommen kann. Besonders Frauen reduzieren oder geben ihre Erwerbsarbeit sogar – zumindest zeitweise – komplett auf, wenn Pflegetätigkeiten sehr intensiv sind. Den Vereinbarkeitskonflikt lösen insbesondere Frauen auf, die verheiratet sind und die finanziell besser aufgestellt sind, es sich demnach also leisten können. Aber: Anpassungen an das Erwerbsleben führen zu individuellen Einkommensverlusten – im Hier und Jetzt, aber auch im Alter. Die Vereinbarkeitskosten tragen pflegende Angehörige zunächst allein. Zugleich entstehen aber auch gesamtgesellschaftliche Folgekosten – etwa durch Fachkräftemangel oder Finanzierungslücken im Rentensystem.

Die Angehörigenpflege ist dennoch wenig im öffentlichen Fokus. Warum ist das so?

Ehrlich: Das liegt auch an der begrenzten Datenlage: Um beispielweise die Situation der Pflegebedürftigen oder des professionellen Pflegesektors in Deutschland zu beschreiben, können wir die administrativen Daten der Pflegeversicherung heranziehen. Für pflegende Angehörige und ihre Pflegearrangements fehlen jedoch solche vergleichbar belastbaren Informationen. Hierfür benötigen und nutzen wir einige wenige etablierte bevölkerungsrepräsentative Umfragedaten, wie den Deutschen Alterssurvey oder das Sozio-oekonomische Panel. Pflegende Angehörige und ihre Pflegearrangements darin abzubilden, ist jedoch herausfordernd, denn Pflegearrangements sind häufig komplex.

„Nur durch ergänzende professionelle Unterstützung lassen sich Überlastungen bei Angehörigen, aber auch ungedeckte Pflegebedarfe bei Pflegebedürftigen verhindern.“

Dr. Ulrike Ehrlich

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA)

Wie ließe sich die Datenlage verbessern?

Ehrlich: Um dem gerecht zu werden, braucht es ausreichend Platz in den Befragungen sowie durchdachte Erhebungsinstrumente. Meine Kolleginnen und Kollegen und ich arbeiten daher kontinuierlich daran, die Situation pflegender Angehöriger in Umfragen besser zu erfassen – durch die Entwicklung neuer Fragen oder die Ausweitung relevanter Antwortkategorien. Aber auch wenn wir als Forschende die Situation von pflegenden Angehörigen mit den vorhandenen Daten immer besser und umfassender sichtbar machen können, muss das Thema auch gesamtgesellschaftlich stärker aufgegriffen werden. Pflege geht uns alle an!

Welche strukturellen Defizite der sozialen Pflegeversicherung werden durch Ihre Studie sichtbar?

Ehrlich: Ein Defizit besteht darin, dass Unterstützungs- und Pflegebedarfe schon heute nicht ausreichend abgedeckt werden. Unsere Studie macht beispielsweise sichtbar, dass fast ein Viertel aller An- und Zugehörigen bereits Unterstützung und Pflege leisten, obwohl die unterstützungsbedürftige Person keinen oder noch keinen Pflegegrad hat. Diese Menschen benötigen Hilfe im Alltag, erhalten aber keinerlei Leistungen aus der Pflegeversicherung. Statt – wie aktuell diskutiert – den Pflegegrad 1 abzuschaffen, wäre vielmehr das Gegenteil nötig: niedrigere Zugangsmöglichkeiten und frühzeitigere Unterstützung. 


Schauen wir in die Zukunft: Wie wird sich der demografische Wandel in den nächsten zehn bis 20 Jahren auf die Angehörigenpflege auswirken?

Ehrlich: Ende 2023 galten in Deutschland rund 5,7 Millionen Menschen als pflegebedürftig. Prognosen gehen davon aus, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2050 stark steigen wird – auf fast neun Millionen Menschen. Das wäre eine Zunahme um mehr als 50 Prozent im Vergleich zu heute. Bisher konnte der personelle Ausbau des professionellen Pflegesektors mit dem bisherigen Anstieg der Pflegebedürftigen nicht Schritt halten – und das wird sehr wahrscheinlich auch in Zukunft nicht der Fall sein. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass die enorme Bedeutung pflegender Angehöriger im deutschen Pflegesystem weiter zunimmt. Gleichzeitig nimmt das Potenzial, dass Angehörige Pflege überhaupt leisten können, ab: Zum einen werden weniger Kinder geboren oder die räumliche Entfernung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern nimmt zu. Zum anderen leben immer mehr Menschen allein und Frauen, die traditionell die Hauptpflegepersonen in Familien waren und auch noch immer sind, sind zunehmend erwerbstätig und haben weniger Zeit, der steigenden Nachfrage nach familiärer Pflege nachzukommen.

Foto: Eine jüngere Frau sitzt einer älteren Frau, die im Rollstuhl sitzt, gegenüber und hält deren Hand.
Wer an lebensphasen-orientiertes Arbeiten denkt, hat oft junge Eltern vor Augen. Tatsächlich müssen aber immer mehr Erwerbstätige nicht nur Job und Kinder unter einen Hut bringen, sondern auch die Pflege eines Angehörigen. Gerade Beschäftigte im Bereich Pflege und Gesundheit stehen unter einem besonderen Erwartungsdruck.
19.05.2025Solveig Giesecke3 Min

Was halten Sie vom vorgeschlagenen Familienpflegegeld – reicht das aus?

Ehrlich: Um das in Gänze bewerten zu können, müsste zunächst klar sein, wie das Familienpflegegeld konkret ausgestaltet werden soll. Bislang prüft die Bundesregierung lediglich, ob ein solches Instrument perspektivisch eingeführt werden könnte. Angaben zur genauen Form fehlen. Eine Variante wäre eine Lohnersatzleistung, ähnlich dem Elterngeld. Das wäre im Vergleich zum derzeitigen zinslosen Darlehen, das im Rahmen der Pflege- oder Familienpflegezeit gewährt wird und den Verdienstausfall nur hälftig ausgleicht, ein deutlicher Fortschritt. Würde die Ersatzrate wie beim Elterngeld bei etwa 67 Prozent liegen, wären pflegende Angehörige, die ihre Arbeitszeit wegen der Pflege reduzieren oder ganz aussetzen, finanziell deutlich besser abgesichert. Vor allem müssten sie anders als heute kein Darlehen zurückzahlen, sondern hätten einen echten Ausgleich für die Einkommensverluste.

Wichtig wäre hier aber auch die Bezugsdauer, oder?

Ehrlich: Ja, richtig, die ist entscheidend: Wenn ein Familienpflegegeld – wie das aktuelle Darlehen – nur für maximal zwei Jahre gewährt würde, ginge das an der Realität vieler pflegender Angehöriger vorbei. Denn Pflege dauert im Durchschnitt bis zu sechs Jahre, in einigen Fällen – etwa bei Eltern mit pflegebedürftigen Kindern – noch deutlich länger. Für sie würde ein zeitlich befristetes Familienpflegegeld kaum spürbare Entlastung bringen.

Was muss aus Ihrer Sicht passieren, damit das Pflegesystem zukunftsfest wird?

Ehrlich: Unsere Gesellschaft altert, und damit wächst der Bedarf an Gesundheits- und Pflegedienstleistungen erheblich. Angesichts der aktuellen Ausgestaltung der Pflegeversicherung und dem Pflegenotstand im professionellen Pflegesektor werden Angehörige auch künftig der „Pflegedienst der Nation“ bleiben. Gleichzeitig sind eben diese An- und Zugehörigen auch als Erwerbstätige gefordert. Alle, insbesondere Frauen, sollen stärker in Vollzeit arbeiten, um dem Arbeits- und Fachkräftemangel entgegenzuwirken und das beitragsfinanzierte Rentensystem zu stabilisieren. Pflegende Angehörige, insbesondere die erwerbstätigen, müssen also endlich konsequent in den Mittelpunkt politischer Entscheidungen rücken und gezielt entlastet werden.      

Wie lässt sich die Erwerbsarbeit neben der Sorgearbeit aufrechterhalten, ohne selbst gesundheitlich an die Grenzen zu kommen?

Ehrlich: Aus meiner Sicht kann gute Pflege nur gelingen, wenn die Angehörigenpflege im deutschen Pflegesystem eine klar definierte, zugleich aber auch begrenzte Rolle hat. Angesichts der bereits jetzt hohen Belastungen pflegender Angehöriger gilt: Wenn sie weiterhin die tragende Säule des Pflegesystems bleiben sollen, braucht es zwingend mehr Investitionen in den professionellen Pflegesektor – denn nur durch ergänzende professionelle Unterstützung lassen sich Überlastungen bei Angehörigen, aber auch ungedeckte Pflegebedarfe bei Pflegebedürftigen verhindern.

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